Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Klassentreffen?«, wollte Sonja wissen.
»Komisch«, antwortete sie nach kurzem Nachdenken. Viel genauer konnte sie ihr Gefühl nicht umreißen. Man hatte sich wiedergesehen, um zu schauen, was aus den anderen geworden war. Aber im Grunde war es ein missglückter Versuch gewesen, an etwas anzuknüpfen, was es schon lange nicht mehr gab, eine rein nostalgische Geste. Kein Mensch wusste etwas über sie. Sie hatte weder von ihrer Mutter erzählt noch von den Erlebnissen der letzten Woche. Wie auch. Und die anderen? Kinder. Ehen. Berufe. Das Übliche. Und Geschichten von früher natürlich.
»Bist du noch im Zeitplan?«, fragte Anja mit Blick auf den Skriptestapel.
Sonja nickte. »Ja. Und in drei Tagen ist wieder ein Puffertag. Wie es aussieht, kann ich freimachen. Wie läuft das Praktikum?«
Anja hätte ihr am liebsten alles erzählt, aber natürlich würde sie das nicht tun. Jemanden, der fürs Physikum büffelte und nebenher ihre depressive Mutter betreute, brauchte sie nicht auch noch mit ihren Geschichten zu belasten.
»Im Moment komme ich viel an die frische Luft. Ich will rasch nach Mama sehen. Schläft sie schon lange?«
»Sie ist um halb zehn ins Bett gegangen.«
»Mit oder ohne?«
»Mit.«
Das Schlafzimmer von Franziska Grimm lag im ersten Stock. Anja schlich auf Strümpfen zu ihrer Tür und öffnete sie einen Spalt. Ihre Mutter lag auf dem Rücken, die Arme auf der Bettdecke ausgestreckt.
Anja trat heran und schaute auf sie herab. Das Gesicht ihrer Mutter war leicht angeschwollen. Die Medikamente wirkten zwar, aber sie hatten ihren Preis. Ihre Mutter war sechsundfünfzig und sah plötzlich zehn Jahre älter aus. Und wenn das so weiterging? Wenn sich ihr Zustand nicht besserte? Und aus welchem Grund sollte er sich bessern? Was an ihrer Seele nagte, ging ja nicht weg.
Ihr Leben war nach dem 21. August 1979 so gut wie stehengeblieben. Die Person, die sie vorher gewesen war, gab es nicht mehr. Dabei hatte die schlimmste Phase erst Monate später eingesetzt, als es nichts mehr zu tun gab, als zu warten. Was war schon der Tod einer geliebten Person im Vergleich zu ihrem spurlosen Verschwinden? Ungewissheit! Das war das Schlimmste. Vergebliche Hoffnung. Jeder Augenblick war erfüllt gewesen von Warten auf eine Nachricht, jedweder Nachricht, und sei es der Fund seiner Leiche. Aber das Ausbleiben jeglicher Information, die totale Ungewissheit, das war ein niemals endender Alptraum.
Und es konnte ja niemand behaupten, dass ihre Mutter nicht versucht hätte, mit ihrer Trauer abzuschließen. Wie viele Therapien hatte sie gemacht! Zwei neue Beziehungen war sie eingegangen, die beide gescheitert waren. Wie oft hatte Anja im Gesicht ihrer Mutter von einem Augenblick zum anderen plötzlich ein regelrechtes Erlöschen bemerkt, eine Teilnahmslosigkeit gegenüber allen Dingen. Und sie selbst war dagegen auch nicht gefeit. Ja, hatte sie nicht sogar zwei Menschen verloren? War die Mutter, mit der sie aus Faunried nach München zurückgekehrt war, nicht auch in diesem Wald verschwunden? Ihre Mutter hatte versucht, sie zu trösten, den Einbruch des absolut Unbegreiflichen in ihre Kindheit durch irgendeine Erklärung zu mildern. Aber was soll einer geben, der selber nichts hat?
Nach etwa zwei Jahren ergebnislosen Wartens hatte Franziska in einem Anfall von Verzweiflung alles, was an Johannes Grimm erinnerte, in einen Mansardenraum gestopft und die Tür abgeschlossen. Das war natürlich keine Lösung gewesen, und Anja hatte sich schon oft gefragt, ob es nicht besser wäre, die ganzen alten Kleider, Hosen, Hemden, Gürtel, Bücher, Ordner, Fotoalben, Zeugnisse – eben alles, was ihm gehört oder zu ihm gehört hatte – aus dem Haus zu schaffen und in einem echten Begräbnis beizusetzen. Ihr Vater war tot, daran konnte schließlich kaum noch ein Zweifel bestehen. Er hatte sich im Wald verirrt und war dort umgekommen. Er konnte so unglücklich in eine Felsennische gestürzt sein, dass er bis heute unauffindbar geblieben war. Das Waldgebiet war riesig. Bären und Wölfe waren zwar selten, aber man musste stets mit ihrem Auftauchen rechnen. Es gab viele Möglichkeiten. Inzwischen hielt sie fast alles für möglich, jede Verkettung unglücklicher Umstände, die dazu geführt hatten, dass seine Leiche bis heute nicht gefunden worden war. Nur eines würde sie niemals glauben: dass er sie verlassen hatte, weggegangen war, um irgendwo ein neues Leben anzufangen. Das wollte und konnte sie nicht glauben. Und zugleich war es
Weitere Kostenlose Bücher