Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
denn das verstehen?«, fragte sie irritiert.
»Na ja, damals, als ich ein kleiner Junge war, waren Leute wie du und deine Eltern für mich immer das Ereignis des Jahres. Im Sommer kamen die Leute aus der Stadt, aus der modernen Welt. Ihr habt anders gesprochen als wir, wart anders angezogen. Euer Auto war ein richtiges Stadtauto …«
»Ein klappriger VW Käfer.«
»Von mir aus. Aber jedenfalls kein Kastenwagen mit zerrissenen Sitzen und matschigen Reifen. Ihr hattet Koffer! Und du besaßt sogar einen Kassettenrekorder mit Märchenhörspielen …«
»… der nach drei Tagen den Geist aufgegeben hat, weil die Batterien leer waren und es nirgendwo welche in dieser Größe gab.«
»Ja. Aber du hattest wenigstens so ein Ding. Wenn ihr damals für zwei oder drei Wochen gekommen seid, war das für mich wie ein Besuch aus einer anderen Welt. Ich konnte nicht begreifen, warum ihr überhaupt nach Faunried gefahren seid, anstatt in eurer tollen Stadt zu bleiben. Ich wollte immer dorthin, wo man einen Kassettenrekorder haben konnte und wo es Mädchen gab wie dich. Und Väter mit langen Haaren.«
»Warum bist du dann nach dem Studium nicht nach München gegangen, wenn du es dort so viel schöner findest?«
Er zuckte mit den Schultern. »Die brauchen mich hier. Was sollten die denn ohne mich machen? Dem Bare fällt doch gar nichts ein. Wir müssen die Leute hierherlocken, Anja. Beschäftigung. Ein Wipfelpfad zum Beispiel würde Tausende von Familien mit Kindern in die Gegend locken. Die übernachten, essen und kaufen ein. Was soll daran falsch sein?«
»Nichts«, sagte sie resigniert. »Parkplätze, Pommesbuden und Stahlträger, auf denen man durch Baumkronen spaziert. Eine großartige Walderfahrung.«
So hatte sich die Familie Gollas also organisiert, dachte sie. Der vielversprechendere der beiden Brüder war gefördert und auf die Universität geschickt worden. Und jetzt erwartete man von ihm, dass er den Familienbetrieb rentabel machte. Sie dachte an Rupert. War er gefragt worden, was er von dieser Arbeitsteilung hielt? Hatte er eigene Ideen gehabt? Sicher, vor die Wahl gestellt, einen der beiden Söhne studieren zu lassen, hätte sie sich wohl auch für Lukas entschieden. Aber besonders förderlich für die Geschwisterbeziehung war diese Entscheidung wahrscheinlich nicht gewesen.
Sie saßen erst knapp zwei Stunden zusammen in diesem Wagen und hatten bisher zu fast keinem Thema die gleiche Meinung gehabt. Aber sie mochte ihn. Seine Stimme gefiel ihr. Und sie musste sich wohl auch eingestehen, dass sie unter anderem deshalb so oft zum Tacho schaute, weil ihr Blick dabei seine Hände und muskulösen Oberarme streifte. Hatte er die vom Klettern?
Sie ertappte sich dabei, dass sie versuchte, sich die Frau vorzustellen, mit der Lukas verheiratet gewesen war. Warum interessierte sie das? Sie musterte sein hübsches Profil. Lukas sah konzentriert auf die Straße, denn sie fuhren ziemlich schnell, zu schnell für Anjas Geschmack. In diesen schweren Geländewagen merkte man nicht viel davon, aber sie sah, dass die Tachonadel jenseits der Einhundertneunzig stand. Wenigstens ließ er sich nicht ablenken, obwohl er ihren Blick sicher gespürt hatte.
»Was würdest denn du aus unserem Wald machen?«, griff er den Faden wieder auf. »Einen Urwald? So wie Xaver?«
Er kam einfach immer wieder darauf zurück.
»Vielleicht«, sagte sie ausweichend.
»Nein. Nicht vielleicht. Sag doch mal. Was würde dich an so einem Wald reizen? Angenommen, ich würde dich engagieren, als Beraterin sozusagen, für ein ökologisches und ökonomisches Nutzungskonzept.«
»Das ist ein Widerspruch in sich.«
»Oho, radikal bist du ja gar nicht. Also gut, ganz ohne Vorgaben also: Was würdest du machen? Was würde dich am Leybachwald interessieren? Sag doch einfach mal.«
»Vieles«, erwiderte sie leise.
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel: warum sich dort plötzlich jemand aufhängt.«
Der Satz veränderte schlagartig die Stimmung im Wagen. Lukas sah ernst zu ihr hin, dann wieder auf die Straße.
»Hattet ihr denn überhaupt Kontakt mit ihm in den letzten Jahren?«, fragte sie, als die Stille im Wagen drückend zu werden begann.
»Kontakt?«, brummte Lukas. »Xaver war immer da, tauchte manchmal im Dorf auf. Aber niemand hatte wirklich etwas mit ihm zu tun. Du weißt doch, was für ein Typ er war.«
»Nein. So war er damals nicht.«
»Möglich. Aber er ist eben so geworden. Er war krank im Kopf.«
»Aber wie konntet ihr ihn denn dann so leben
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