Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
unangenehm an Grossreithers Ermahnung. Sie würde diese Woche wohl endlich mal einen Abschuss machen müssen.
Als der Schankraum des Wirtshauses in Sichtweite kam, sah sie, dass ein Tisch noch besetzt war. Sie blieb ein Stück entfernt stehen und musterte die vier späten Biertrinker durch die Scheibe. Natürlich waren nur Männer da. Ab sechzig aufwärts, schätzte sie. Wenigstens war Obermüller nicht dabei. Und auch ihr Chef nicht. Aber es war wohl dennoch keine besonders gute Idee, dass sie um diese Zeit ohne Begleitung dieses Lokal betrat. Dabei hätte sie jetzt wirklich gern ein Bier getrunken. Lag es an der Pizza, dass sie solchen Durst hatte? Sie wollte schon kehrtmachen, als sie ihn entdeckte. Er saß allein am Tresen, den Rücken zum Raum gewandt, den Kopf auf die rechte Hand gestützt. Anja blieb einige Minuten lang unschlüssig stehen, aber dann gab sie sich einen Ruck, ging zum Eingang und öffnete die Tür. Die Köpfe der vier Männer am Tisch drehten sich zu ihr um. Der Mann am Tresen reagierte nicht. Anja ging geradewegs zu ihm hin und stieg neben ihm auf einen Barhocker.
»Hallo, Rupert.«
Er hob den Kopf und musterte sie, ohne die geringste Überraschung zu zeigen. Sein Glas war fast leer. Wie lange saß er schon hier? Und wie viel hatte er getrunken? Jetzt stahl sich ein Anflug von Verwunderung in seine Miene. Ohne etwas zu sagen, wandte er das Gesicht wieder von ihr ab und fixierte seinen Bierkrug.
»Ich hätte gern ein Bier«, sagte sie dem Kellner. »Und falls der Herr auch noch eines möchte, bestelle ich gleich zwei.«
Rupert hob den rechten Arm und wedelte ablehnend mit dem Zeigefinger. »Zahlen«, sagte er.
Der Wirt sah Anja skeptisch an. Da sie keine Anstalten machte, ihre Bestellung zurückzuziehen, nahm er ein Glas vom Regal und begann zu zapfen.
»Es tut mir sehr leid, was passiert ist, Rupert«, sagte sie dann. »Das muss alles sehr schlimm für euch sein. Vor allem für deine Mutter.«
Rupert legte den Kopf in den Nacken und streckte sich kurz, als sei sie gar nicht da.
»Zahlen, hab ich gesagt.«
Der Wirt ließ von Anjas Bier ab, schlurfte zu seiner Kasse und ließ den Bon raus.
»Na dann«, sagte Anja und rückte ein wenig von ihm ab. »Ich wusste nicht, dass wir nicht miteinander reden. Tut mir leid.«
Ruperts Hand fuhr in seine Hosentasche, und er begann damit, Münzen auf den Tresen zu zählen. Anja dachte unwillkürlich an Lukas’ gepflegte Hände. Ruperts Nägel waren abgebrochen und mit schwarzen Rändern versehen. Auf dem sonnenverbrannten Handrücken zeichneten sich dicke Adern ab, und an der Stelle, wo das breite, kräftige Handgelenk aus seinem Hemd ragte, quoll üppige dunkle Körperbehaarung hervor.
»Worüber sollten wir beide denn reden?«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Über meinen Onkel, den du des Mordes verdächtigst?«
Sie rückte von ihm ab. Sie spürte die Aggression in dem ihr völlig fremden Mann. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ihn anzusprechen? Das hier war doch nicht der Vierzehnjährige, mit dem sie im Heuschober herumgetollt war. Rupert war erst Mitte dreißig, aber er sah aus wie ein Fünfzigjähriger. Er war nur ein paar Jahre älter als Lukas, doch er war sichtlich viel schneller gealtert als er. Seine Haut war ungepflegt. Zudem war er unrasiert, und Anja konnte seine Schweißausdünstungen riechen. Er war vermutlich noch immer gereizt von dem Zusammenprall mit Lukas und hatte außerdem getrunken. Warum saß er überhaupt noch hier und war nicht längst in Faunried bei seiner schwangeren Frau und seiner kleinen Tochter? Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Siehst du?«, sagte er. »Wer viel redet, redet viel Mist.«
Der Gastwirt strich Ruperts Münzen vom Tresen und ließ den nächsten Schuss Bier in Anjas Glas hineinlaufen. Sie rechnete fest damit, dass Rupert im nächsten Augenblick aufstehen würde, aber stattdessen wandte er sich plötzlich zu ihr um und sah sie mit seinen blauen Augen an. »Du schaust wirklich aus wie deine Mutter.«
Der Satz traf sie wie ein Hieb. Sie schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, ruhte Ruperts Blick immer noch auf ihr, aber sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Er sah betroffen aus.
»Entschuldigung«, stammelte er plötzlich. Sein Gesicht war ein wenig rot geworden. Er schaute zur Seite. Anja fasste sich wieder.
»Schon gut«, sagte sie. »Das höre ich öfter. Aber dass du dich so gut an sie erinnerst, erstaunt mich.«
Er legte den Kopf ein wenig schief. »Tja,
Weitere Kostenlose Bücher