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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Feld vor ihr.
    Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Kopfweh verschwunden war. Schlagartig besserte sich ihre Stimmung. Sollte sie das beunruhigen? Jagte sie etwa gern? Das einsame Warten in der Natur gefiel ihr. Aber das Schießen? Und die blutige Aufbrucharbeit danach? Ein Teil von ihr wünschte, dass ihr nichts vor die Büchse kam und sie nur ein paar Stunden hier sitzen und ihren Gedanken nachhängen konnte. Doch was würde sie tun, sobald sich dort unten etwas bewegte? Sie würde den Atem anhalten, das Gewehr in Anschlag bringen, das Tier durch das Zielfernrohr beobachten und dann entscheiden. Je nachdem, was dort unten vorbeikam. War das verwerflich? Nein. Das Wild musste dezimiert werden. Da man keine Raubtiere mehr haben wollte, mussten Leute wie sie dafür sorgen, dass der Wald nicht aufgefressen wurde. Was auch immer man tat, immer ergab sich daraus eine endlose Kette von unbedachten Folgen und Wirkungen. Man rottete den Wolf aus und bekam eine Rehplage. Man besiegte die Tollwut und sorgte über eine komplexe Kettenreaktion für eine dem Menschen viel gefährlichere Verbreitung des Fuchsbandwurms. Fast jeder Eingriff in die Natur machte langfristig alles nur schlimmer und zwang zu immer radikaleren Maßnahmen. Deshalb saß sie hier in der Abenddämmerung auf ihrem Hochsitz und würde in den nächsten Stunden auf alles feuern, was dort unten vorbeikam und zum Abschuss frei war – mitten aus den Widersprüchen der Zeit heraus, oder in sie hinein.
    Sie bedauerte, dass sie keinen Hund hatte, denn dann hätte sie weitgehend ungestört ihren Gedanken nachhängen können. Ein Hund würde lange vor ihr wittern, wenn sich ein Tier nähern sollte, und sie könnte in Ruhe grübeln und bisweilen sogar ein wenig schlummern. Was sie schließlich auch tat. Ihr Kopf fiel immer wieder vornüber, und als ein leichter Schmerz im Nacken sie weckte, war die Welt um sie herum noch grauer und farbloser geworden. Doch dann sah sie die Bewegung in der Abenddämmerung. Sofort war sie hellwach. Sie rührte sich nicht, aber ihre Augen folgten aufmerksam einem dunklen Schemen, der sich rechter Hand von ihr am Waldrand entlangbewegte. Kurz darauf war er verschwunden.
    Anja entsicherte geräuschlos ihre Waffe und nahm eine stabile Schützenstellung ein. Einige Minuten lang geschah nichts. Dann tauchte das Tier wieder auf. Aber nun befand es sich nicht mehr am Waldrand, sondern weiter hinten auf freiem Feld. Anja schaute durch das Zielfernrohr. Das Büchsenlicht war ausreichend. Mit etwas Glück würde sie aus dieser Entfernung einen sauberen Kammerschuss plazieren können. Sie brauchte eine ganze Weile, während der sie durch das Zielfernrohr das Feld absuchte, bis sie das Tier im Visier hatte. Es war eine Bache. Kein besonders großes Exemplar. Wahrscheinlich ein Überläufer. Das war auf diese Entfernung nicht zu sagen. Merkwürdig war, dass das Tier offensichtlich allein war. Oder war der Rest der Rotte noch im Wald? Auffällige Bewegungen waren nicht festzustellen. Anja wartete und suchte erneut die nähere Umgebung der Bache mit dem Zielfernrohr ab. Aber da waren keine weiteren Tiere.
    Plötzlich stand das Stück breit zur Schussrichtung vor ihr. Trotz der idealen Position wartete sie noch einige Sekunden. Diesen Moment kurz vor dem Schuss empfand sie immer als ungeheuerlich. Die sanfte Ruhe des Waldes. Der immense Himmel darüber. Das Lebewesen dort unten. Und sie saß hier, den Finger am Abzug. Die kleinste Krümmung ihres Zeigefingers würde die Ladung explodieren lassen. Im Bruchteil einer Sekunde würde das Projektil den Weg zu dem Tier finden, es glühend heiß durchbohren und auf dem Weg hoffentlich sofort ein oder mehrere lebenswichtige Organe zerfetzen. Einen Moment noch ließ sie das Fadenkreuz auf dem dunklen Schemen leicht hin und her wandern, bestrebt, den Punkt zu finden, hinter dem die größte Zerstörung für die Ladung zu erwarten war. Dann drückte sie ab. Die Explosion zerriss die Stille und verhallte mit einem doppelten Echo in der Ferne. Sie schaute auf. Jetzt war da nur noch ein leeres Feld. Anja griff nach dem Fernglas und suchte die Stelle ab, wo das Tier eben noch gestanden hatte. Aber da war nichts. Sie vermeinte, ein leises Trappeln von vielen Läufen in geringer Entfernung zu hören. Die Geräusche erstarben.
    Sie starrte auf das Feld hinab. Minuten vergingen, aber nichts geschah. Sie sah auf die Uhr. Es war halb acht. Sie hatte das Gefühl gehabt, gut getroffen zu haben. Aber sie wusste natürlich, dass

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