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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Stunden schlichen dahin. Seite um Seite pflegte sie die Profildaten ein, die Obermüller und sein Kartierer aus Grafenwöhr gestern abgeliefert hatten. Die beiden hatten über neunzig Ansprachen geschafft.
    Diesmal vermochte die monotone Arbeit sie allerdings nicht von den schwarzen Gedanken ablenken, die sie hartnäckig heimsuchten. Das Gespräch und schließlich die Konfrontation mit Rupert erschienen ihr heute derart irreal, dass sie ihren eigenen Erinnerungen misstraute. Hatte das wirklich so stattgefunden? Er war betrunken gewesen, kein Zweifel. Aber erklärte das etwas?
    Gegen sechzehn Uhr rief Kommissar Gerlach an und informierte sie, dass eine bereits am Freitag begonnene und heute Morgen abgeschlossene Untersuchung des Haingries mit Bodenradar ergebnislos verlaufen sei. Man würde sich jedoch in den nächsten Tagen auch noch andere Waldstücke vornehmen. Es habe damals, wie immer bei derartigen Fällen, Hunderte von Hinweisen aus der Bevölkerung gegeben, denen natürlich nicht allen mit derselben Gründlichkeit nachgegangen worden war. Zudem seien die technischen Möglichkeiten damals nicht so weit entwickelt gewesen wie heute. Hauptkommissar Dallmann habe daher angeordnet, alles noch einmal komplett zu überprüfen, jedem Tipp nachzugehen und gegebenenfalls erneut Bodenradar einsetzen. Gerlach versprach, sie auf dem Laufenden zu halten.
    Sie nahm die Nachricht mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis, dankte ihm und legte wieder auf. Danach hielt sie es in der stickigen Amtsstube nicht mehr aus. Sie packte ihre Sachen, ging zum Magazin neben der Wildkammer und suchte sich ihre Jagdausrüstung zusammen. Haken, Messer, Rebschere, Aufbrechsäge, Plastikunterlagen und Einweghandschuhe wanderten in die Wildwanne. Sie füllte einen Zehn-Liter-Wasserkanister und nahm eine Stirnlampe und eine starke Handlampe mit.
    Es war später Nachmittag, als sie Hinterweiher erreichte. Der Himmel hatte sich schon gegen drei Uhr bezogen, und das Licht, das durch die dichte Wolkendecke drang, erzeugte eine undefinierbare, graue Atmosphäre, in der sich jedes Gefühl für eine bestimmte Tages- oder Jahreszeit auflöste wie in einer schmutzigen Pfütze. Es war absolut windstill. Unbeweglich stand in jede Himmelsrichtung, mal näher, mal weiter, eine Fichtenwand, und Anja hatte das unsinnige, aber nicht minder wahrhaftige Gefühl, dass die gesamte Landschaft ihr feindlich gesinnt war.
    Sie fuhr noch zwei Kilometer, bog dann von der Landstraße auf einen Feldweg ein, dem sie bis zu einer Holzschranke folgte. Sie war nicht gesichert und ließ sich ohne Mühe öffnen. Etwa dreihundert Meter weiter parkte sie den Wagen, zog ihr Gewehr aus dem Verschlag hinter dem Rücksitz, schulterte ihren Rucksack und vergewisserte sich, dass sie ihr Asthmaspray dabeihatte. Dann marschierte sie los. Von hier waren es nur etwa fünf Minuten bis zu dem Hochsitz, den sie ausgewählt hatte. Er war von der gleichen Bauart wie der im Haingries, ein geschlossener Kanzelsitz mit Vordereinstieg, gut getarnt am Rand einer weitläufigen Wiese mit ausgezeichneter Sicht. Sie stellte ihre Sachen ab und prüfte zunächst die Bodenanker. Sie waren in Ordnung, die Hauptstützen waren weder angefault noch von Tierschützern oder Jagdgegnern angesägt. Die Sprossen wirkten ebenfalls stabil. Doch als sie den Überstieg erreichte und sich soeben auf die kleine, mit verzinktem Maschendraht beschlagene Fläche vor der Tür ziehen wollte, hörte sie aus dem Innern der Kanzel ein deutliches Summen. Augenblicklich machte sie kehrt, kletterte wieder hinunter und musterte die Unterseite. Sie brauchte nicht lange zu warten, bis sie Gewissheit hatte. Ein reges Kommen und Gehen von Hornissen war an einem der Eckbalken im Gange, welche die Kanzel stützten. Zwei Späherinnen kamen jetzt sogar in taumelndem Zickzack zu ihr heruntergeflogen und summten bedrohlich nah um ihren Kopf herum. Anja packte ihre Sachen und ging rasch davon.
    Sie kehrte zu ihrem Wagen zurück, konsultierte die Karte und suchte den nächsten Sitz, der in einer vernünftigen Entfernung lag. Als sie ihn erreicht hatte, stellte sich heraus, dass es nur ein einfacher Ansitzstand mit offener Kanzel war, dafür ohne unerwünschte Konkurrenz aus der stechenden oder beißenden Insektenwelt. Wie zuvor prüfte sie zunächst alle tragenden Teile und richtete sich dann auf dem kleinen Hochsitz ein. Sie lud durch, legte sich das Gewehr quer über den Schoß, nahm das Fernglas zur Hand und beobachtete lange das weitläufige

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