Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Sie durfte auf keinen Fall allein dort hineingehen. Eine Nachsuche nach Einbruch der Dunkelheit, allein, ohne Hund – mehr Anfängerfehler konnte man ja gar nicht aufeinanderhäufen.
Aber was würde Grossreither von ihr denken, wenn sie ihm eine sauber aufgebrochene Bache in die Wildkammer hängte? Ein paar Schritte konnte sie wohl noch gehen. Sie hatte alles gut im Blick, das Gewehr im Anschlag. Lag das Tier nicht dort? Dieser dunkle Haufen, der leicht zitterte? Sie richtete ihre Lampe darauf. Was war das? Auf einmal ergriff sie panische Angst. Was tat sie hier? Sie machte einen Schritt rückwärts. Aber in diesem Augenblick entstand wie aus dem Nichts links von ihr eine Bewegung. Etwas Dunkles, Massiges raste auf sie zu. Sie riss die Waffe herum und feuerte. Ein grässliches Kreischen zerriss die Stille. Dann spürte sie einen Schlag am rechten Bein. Ein stechender Schmerz ließ sie aufschreien. Sie knickte ein, fiel jedoch nicht, sondern riss den Lauf ihrer Waffe herum, richtete ihn auf die dunkle Masse, die sich ein paar Meter von ihr entfernt zuckend hin und her warf, und feuerte erneut. Das Tier wurde zur Seite geworfen. Es röchelte noch einige Sekunden lang. Dann lag es still.
Anjas rechtes Bein schmerzte höllisch. Sie sah an sich herunter. Ihre Hose war aufgerissen und blutig. Panik überkam sie. Ihre Knie wurden weich. Sie sank zu Boden und hielt die Taschenlampe auf ihr schmerzendes Bein. Es war keine große Wunde. Aber ein kleiner Kratzer war es auch nicht. Ein fingerbreites Hautstück von der Größe eines Daumens stand steil nach oben und gab den Blick auf blutiges Gewebe frei. Anja stöhnte. Dann riss sie sich zusammen, nahm ihren Rucksack und holte mit zitternden Fingern einen Erste-Hilfe-Beutel heraus. Das Desinfektionsmittel brannte furchtbar. Tränen traten ihr in die Augen, und sie schrie sogar kurz auf. Dann war das Schlimmste vorbei. Sie legte zwei sterile Kompressen auf und wickelte eine komplette Mullbinde um das Bein. Die Wunde begann nun auch noch heftig zu pochen. Der Schmerz steigerte ihre Wut. Auf sich selbst. Auf Grossreither. Auf ihre ganze verfluchte Situation. Sie erhob sich ächzend und schaute auf das Tier, das reglos ein paar Meter von ihr entfernt im aufgewühlten Laub lag. Und jetzt? Sollte sie Hilfe holen? Nein!, dachte sie trotzig. Sie würde diese beschissene Jagd zu Ende bringen. Weder Grossreither noch sonst jemand sollte von ihren unsäglichen Stümpereien erfahren.
Sie humpelte zu ihrem Wagen zurück, verstaute ihr Gewehr, holte ihre Gerätschaften und brachte alles zum Hochsitz. Dann kehrte sie zu der toten Bache zurück, biss die Zähne zusammen und schleifte das Tier quer über die Wiese zum Hochsitz. Sie band sich die Stirnlampe um, nahm ein kleines, scharfes Messer, legte an den Hinterläufen oberhalb der Schalen die großen Sehnen frei und fädelte an jedem Lauf einen Haken hinter der Sehne durch. Beim dritten Anlauf gelang es ihr, den Tierkörper bis auf Augenhöhe an der Leiter hochzuwuchten und mit dem Kopf nach unten an einer der Sprossen aufzuhängen. Damit lag die größte Kraftanstrengung hinter ihr.
Sie zog die Einmalhandschuhe an und arbeitete schnell und konzentriert. Der stechende Schmerz in ihrer Wade war noch da, aber längst nicht mehr so stark wie zuvor. Immer wieder wanderte ihr Blick zu den Haken im Unterkiefer der Bache. Sie waren nicht besonders groß. Drei, höchstens vier Zentimeter ragten sie seitlich aus dem Maul heraus. Das sollte ihr eine Lehre sein! Was, wenn sie es mit einem Keiler zu tun gehabt hätte und nicht mit einem Überläufer?
Sie brach das Tier auf, entfernte vorsichtig die Gallenblase und fuhr dann mit dem Ausweiden fort. Magen und Darm würde sie nicht mitnehmen. Die restlichen Organe legte sie auf eine Plane. Als sie fertig war, spreizte sie den leeren Brustkorb des toten Tiers mit einem Metallstab auf, damit es auskühlte, während sie den Wagen holte. Um halb zehn hatte sie alles verstaut, und als sie das Forstamt erreichte, schlug es zehn Uhr. Sie schleppte das Tier in die Wildkammer, hängte es auf, spritzte mit einem Schlauch das Innere des Körpers aus und brachte es dann in den Kühlraum. Die Wanne mit den Organen stellte sie dazu. Sie füllte das Jagdprotokoll aus und reinigte ihre Gerätschaften. Dann kümmerte sie sich endlich wieder um ihr Bein.
Die Wunde sah übler aus, als sie gedacht hatte. In der Eingangshalle zum Büro hing eine Liste mit den Telefonnummern der Notdienste. Furth im Wald hatte die
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