Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Gefühle hier nicht viel taugten. Sie rührte sich nicht und lauschte konzentriert in die Stille hinein. War da ein Rascheln? Scharrten irgendwo ein paar Klauen verendend im Boden? Oder hatte sie doch danebengeschossen, und das Tier war längst über alle Berge?
Die Bache hatte breit gestanden, und sie hatte einen sauberen Kammerschuss anvisiert. Vielleicht war das Tier in einer Mulde zusammengebrochen? Sie musste absteigen und nachsehen. Aber wann? Mit einer angeschossenen Sau war nicht zu spaßen. Entweder sie fand dort unten eine tote Bache oder gar nichts. Das wäre das Beste. Aber was, wenn am Anschuss Gewebeteile herumlagen? Oder Knochensplitter? Ein Krellschuss war es mit Sicherheit nicht gewesen, denn dann wäre das Tier gestürzt und hätte sich herumgewälzt, bevor es abging, was sie in jedem Fall gesehen hätte. Einen Milz- oder Leberschuss würde man riechen können. Hauptsache, sie fand keinen Geweberest von einem abgefetzten Organkranz. Derart angeschossene Tiere fielen manchmal noch nach vielen Stunden nicht ins Wundbett. Und solche Sauen verhielten sich besonders unfreundlich, wenn man sie stellte.
Die nächste Etappe flößte ihr Unbehagen ein. Sie musste dort hinunter. Sie hatte getroffen. Sie wusste zwar nicht, woher sie diese Sicherheit nahm, aber sie war davon überzeugt. Irgendwo dort unten kauerte das Tier im Wundbett und wartete auf sie. Sie musste es stellen. In spätestens einer Stunde wäre es stockfinster.
Sie griff nach ihrem Rucksack und machte sich vorsichtig auf den Weg nach unten. Am Fuß des Hochsitzes lauschte sie zunächst noch einmal aufmerksam in die Stille hinein, aber außer einem schwachen Rauschen, das von einem leichten Wind herrührte, der durch die Bäume strich, war nichts zu hören. Sie lud ihre Waffe, entsicherte sie und ging mit dem Finger am Abzug langsam auf die Stelle zu, wo das Tier gestanden hatte. Die Dämmerung war so weit fortgeschritten, dass das Feld nur noch wie eine graugrüne Fläche vor ihr lag. Sie blieb stehen, sicherte das Gewehr, holte die Handlampe aus dem Rucksack, entsicherte wieder und ging langsam weiter. Der Anschuss lag einige Meter weiter links, als sie vermutet hatte. Und was sie im Schein ihrer Lampe entdeckte, gefiel ihr überhaupt nicht. Bei einem Kammerschuss hätte schaumrotes Blut am Anschuss liegen müssen. Stattdessen lag dort dunkler, verschmutzter Schweiß. Ohne die Augen von der näheren Umgebung zu nehmen, ging sie in die Knie, stellte die Lampe ab, tauchte Zeigefinger und Daumen ihrer linken Hand auf eine dunkel gefärbte Stelle im Gras und roch daran. Das Ergebnis war eindeutig. Sie rieb ihre Hand sauber, blieb jedoch in kniender Stellung und leuchtete die nähere Umgebung aus. Ein wurmartiger, rot glänzender Gegenstand lag im Gras. Anja beugte sich zu dem Gewebeteil herab. Es war ein Stück Darmschlinge. Helle Borsten vom Unterbauch lagen daneben und beseitigten jeglichen Zweifel. Sie hatte den Unterbrauch getroffen. Den Darmbereich. Sie fluchte leise. Was jetzt? Wie sollte sie das Tier finden? Derart angeschossen konnte es stundenlang weiterwandern. Mit bloßem Auge wäre die Blutspur wegen der einsetzenden Dunkelheit bald nicht mehr zu verfolgen. Außerdem würde die Wunde möglicherweise gar nicht lange bluten, da der heraushängende Darm die Schusswunde verstopfte.
Anja wusste, was jetzt zu tun war: Die Jagd abbrechen und morgen früh mit einem Hundeführer die Nachsuche aufnehmen. Ein Schweißhund würde eine stinkende Wundfährte leicht arbeiten können. Alles andere war ziemlich aussichtslos und zudem gefährlich. Doch der Gedanke an Grossreither und das, was er unweigerlich denken würde, ließ sie zögern. Kartieren kann sie nicht. Und schießen kann sie auch nicht. Der Hundeführer würde eine Rechnung schreiben, und das Wildbret wäre hinüber, wenn sie das Tier erst morgen irgendwo verendet fanden. Sie biss sich auf die Lippen. Allein der Gedanke, sich Grossreither gegenüber schon wieder rechtfertigen zu müssen, war ihr zuwider.
Sie leuchtete erneut die Umgebung ab. Auf dem Boden waren Abdrücke zu sehen. Sie folgte der Spur ein Stück und stieß auf dunklen Schweiß im Gras. Vielleicht war das Tier ja doch verendet, bevor es den Wald erreicht hatte? Vorsichtig, die Waffe immer im Anschlag, arbeitete sie sich in Richtung Waldrand vor. Die Schweißspuren waren deutlich zu sehen. Als sie die ersten Bäume erreichte, blieb sie stehen und leuchtete unschlüssig zwischen den Stämmen hindurch den Waldboden ab.
Weitere Kostenlose Bücher