Schweigende Mauern: Historischer Kriminalroman aus Trier (German Edition)
Schreck verzerrtem Gesicht und presste ihre Hände gegen ihren Kopf.
»Helena, Liebste!«, rief der junge Meister erschrocken aus und eilte an ihre Seite. Er nahm sie in die Arme und sprach beruhigend auf sie ein. »Es war ein bedauerlicher Unfall. Eine Unachtsamkeit, ein Missgeschick, und schon war es geschehen. Er kannte die Gefahr – du auch.«
Langsam bahnte sich die Trauer ihren Weg. Sie begann leise zu weinen. Kaum vernehmbar wiederholte sie immer wieder nur ein Wort: »Warum?« Sie schüttelte verzweifelt, wie von Sinnen, den Kopf. Ihre Haube rutschte Stück für Stück nach hinten, bis sich schließlich ihr blondes Haar über ihre Schultern ergoss und einen Teil ihres Gesichts wie einen Trauerschleier verhüllte.
Die wenigen Leute, die übrig geblieben waren, standen stumm herum und beobachteten die Szene aus gebührender Ferne. Es schien ihnen peinlich zu sein, die Trauer der Frau mitzuerleben.
Nikolaus konnte seine Neugierde kaum bezwingen. Er fragte den Priester, der neben ihm stand: »Ist der Tote ihr Vater?«
»Nein, nein. Der Zunftmeister Herrmann Albrecht war ihr Ehemann.«
Der junge Gelehrte zog die Augenbrauen erstaunt hoch. »Da hätte ich eher auf den jüngeren Mann gewettet.«
»Da seid Ihr nicht der Erste.«
Nikolaus wollte noch etwas fragen, aber der Geistliche war schon zum Leichnam unterwegs und begann, halblaut zu beten. So eigenartig diese Bemerkung auch gewesen war, es ging ihn überhaupt nichts an. Er hatte keine Lust, sich in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen: wer mit wem zusammen war, obwohl verheiratet, und was sich daraus ergab. Das waren ganz eindeutig deren Probleme – nicht seine. Er wollte sich nicht schon wieder Ärger aufhalsen, nur weil er zu neugierig war. Lieber beschäftigte er sich mit seinen Urkunden und Pergamentrollen.
Nikolaus hatte sich schon umgedreht, um zum Dombezirk zurückzukehren, als er plötzlich wieder die Stimme der Frau vernahm. Er blieb stehen und blickte zurück. Die Worte der Witwe waren laut und anklagend. Sie trat auf die drei älteren Honoratioren zu, die noch immer in der Kirchentür standen und die gesamte Szene beobachtet hatten.
»Ihr habt ihn auf dem Gewissen! Ihr habt ihn umgebracht!«, rief sie und hob drohend die Faust.
Die vornehm gekleideten Herren sagten nichts. Ihr Gesichtsausdruck war voller Kälte und Verachtung, als würden sie einen kleinen, lästigen Hund beobachten, der sie ankläffte und den sie jederzeit mit einem lässigen Fußtritt vertreiben könnten. Der Handwerksmeister wollte die Frau beruhigen und zur Seite ziehen, aber sie ließ sich nicht beeindrucken. Zielstrebig näherte sie sich dem mittleren der drei. »Vater, sagt mir offen und ehrlich: Was habt Ihr mit Herrmanns Tod zu tun? Warum habt Ihr das getan?«
Nikolaus hatte die Ohren gespitzt. Hatte sie etwa »Vater« gesagt? Wie kam es, dass so überraschend die ganze Familie hier am Unglücksort versammelt war?
Endlich antwortete der Mann: »Spiel dich nicht so auf, Kindchen!«
»Ich bin kein kleines Kind mehr!«, zischte sie wütend. »Nennt mich also nicht Kindchen!«
»Ich kann ja verstehen, dass du durch den plötzlichen Tod deines Mannes verwirrt bist. Es tut mir ja auch leid.«
»Pah!«
»Aber das ist noch lange kein Grund, mich hier auf offener Straße zu beschuldigen, ich wäre am Unfall deines Mannes beteiligt. Das ist schon ein starkes Stück!«
»Warum seid Ihr dann hier? Gerade, als Herrmann vom Turm stürzt? Ihr seid doch sonst höchstens zur Messe mal hier.«
Die drei Honoratioren schüttelten verständnislos den Kopf. Der eine bewegte seine Hand vor seinem Gesicht kurz hin und her, um zu zeigen, dass er die Frau für schwachsinnig hielt. Die anderen beiden nickten nur und gingen dann schweigend davon. Auch die wütenden Schreie der jungen Frau hielten sie nicht mehr auf.
Nikolaus hatte inzwischen jegliche Lust verloren, sich noch mehr familiäre Streitigkeiten und menschliches Unglück ansehen zu müssen. Es war schon erstaunlich, wie verworren und zerrüttet manche Familien waren. Aber da bewahrheiteten sich wieder die Worte des Herrn Jesus Christus: »Eines Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.« 11
Nachdem er den Durchgang zum Markt hinter sich gelassen hatte, verklangen langsam die Rufe. Stattdessen war er wieder vom geschäftigen Treiben und dem Stimmengewirr zwischen den Ständen umgeben. Langsam schlenderte er zurück zu seiner Beschäftigung im Archiv des Trierer Domkapitels.
Der Dompropst
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