Schweigfeinstill
denken.
»Also wirklich«, setzte Uwe Koch wieder an. »Tabletten gegen Angstzustände, das passt nicht zu Bertram.«
»Hat Herr Kugler diesen Anruf hier in Ihrem Büro entgegengenommen?«
»Nein, wir haben einen Anschluss in der Lackiererei. Bertram hat das Telefon dort benutzt.« Koch schenkte sich Tee nach. »Das ist wichtig für Sie, nicht wahr?«
Keller nickte. Er nahm seinen Becher und verbarg mit aller Kraft seinen Widerwillen gegen das dunkle Gebräu. Er brauchte eine gute Beziehungsebene zu Koch. Der lächelte, als Nero ihm den leeren Becher hinhielt.
»Ja, schwarzer Tee ist was fürs Gemüt.« Aufgeregt stellte Koch die Kanne ab. »Nein. Der hieß nicht Meier oder Schleier. Der hieß Lehr. Ganz sicher.«
»Lehr?«
»Einmal war Bertram bei einem Kunden und ich notierte mir den Namen und die Telefonnummer von seinem Kumpel. Lehr, heißt der, ich weiß es, ich habe ihn nämlich gefragt, ob mit ›eh‹ oder ›ee‹. Natürlich denkt man an ›leer‹ wie ›voll‹. Aber er heißt Lehr mit ›h‹.«
»O. k.«, sagte Nero. »Das hilft mir weiter.«
»Wenn mir der Vorname noch einfällt, rufe ich Sie an.«
Nero legte seine Karte auf dem Papierhaufen ab. Koch nahm sie und klebte sie mit Tesafilm an die Scheibe. »Sonst geht die unter hier drin.«
Drei Minuten später hatte Nero Jassmund am Telefon.
»Na, ich weiß nicht«, sagte Peter Jassmund zögerlich, als Nero geendet hatte. »Meinst du, das bringt was?«
»Wenn irgendeiner mal 20 Minuten Zeit hat, soll er den Namen durchchecken.«
»Bist du nicht derjenige, der Zeit hat?«, fragte Jassmund lachend. »Du, war ein Scherz. Ich kümmere mich drum. Übrigens haben wir das Piranha unter die Lupe genommen. Der Geschäftsführer ist ein gewisser Alfons Gaus. Er hat außerdem einen Irish Pub in Vorarlberg und einen Tanzclub in Salzburg. Sieht alles sauber aus.«
31.
Ich arbeitete an Andys Text. Das Wichtigste schien mir, eine Form zu entwickeln, bei der seine Lebensgeschichte am besten zum Tragen kam. Ich probierte ein bisschen herum. Saß mit meinem Lieblings-Lamy und einem Stapel Konzeptpapier an meinem Barbrett und trank drei Tassen Espresso, während ich versuchte, die passende Stimme zu destillieren. Das Wichtigste an einer Geschichte war die Tonlage, in der sie erzählt wurde. Ihr Klang sorgte dafür, dass die Leser einem abkauften, was man geschrieben hatte. Jede meiner Reportagen und jedes meiner Bücher war ein Vorschlag, die Welt mit den Augen eines ganz bestimmten, einmaligen Menschen zu sehen. Nun sollte ich der Welt zeigen, was es hieß, Andy Steinfelder zu sein, sprachlos zu sein, aber ich sollte es mit Sprache tun. Und stellvertretend erzählte ich nicht nur Andys Schicksal, sondern das vieler Aphasiker.
Abgesehen von dem Dilemma, dass Andy mir seine Gefühlslage, sein ganzes persönliches Erleben nicht ausführlich schildern konnte, unterlag das Schreiben über Emotionen generell starker Vereinfachung. In jedem Augenblick machten wir Menschen simultan eine ganze Palette unterschiedlicher Empfindungen durch. Es gelang kaum, aus all dem Chaos eine Art hauptsächliches Gefühl zu destillieren, schon gar nicht in so einer dramatischen Phase wie den Stunden und Tagen nach einem Schlaganfall. Doch auf ein solches emotionales Zentrum musste ich mich beim Erzählen stützen, um die Geschichte scharfzuzeichnen. Ich baute auf physische Details oder sinnliche Eindrücke, wie das Bild an der Wand über dem Krankenbett oder das warme, nach Chlor riechende Wasser im Therapiebecken. Wir Ghostwriter logen also, indem wir das Leben unserer Kunden inszenierten. Jede Inszenierung war eine Lüge. Die Kollegen vom Fernsehen konnten ein Lied davon singen.
Ich kritzelte auf meinen Blättern herum. Die Distanz, die ein Leser zur Geschichte empfand, ging auf das Konto der Stimme, mit der sie erzählt wurde. Zwanglos und ohne Hemmungen, salopp und doch unnahbar. Oder umgekehrt. Vom ersten Augenblick in die dunklen Winkel der Seele führend. Die Stimme allein war imstande, dem Leser die Hand auf die Schulter zu legen und ihm zuzuraunen: Ich sehe dich, wo du auch bist. Du hast etwas, das mir gehört. Wie sollte Andys Stimme klingen?
Ich hob den Kopf. Mein Blick begegnete dem verklebten Fenster. Na wunderbar. Wo blieben die freundlichen Handwerker? Ich rief Carlos Handy an. Er antwortete nicht. Ohne eine Nachricht zu hinterlassen, legte ich auf. Carlo war ja nicht für meinen Haushalt verantwortlich. Ärgerlich schnappte ich mir den Lamy und ging hinüber ins
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