Schweigfeinstill
bei Frau Laverde gespielt? Wenn er etwas von ihr gewollt hätte, warum hat er sie dann den ganzen Abend lang nicht angesprochen?«
Carlo schnitzte ein langes schmales Stück Zitronenschale ab und drehte es zu einer Spirale.
»Weiß nicht.«
»Frau Laverde hat doch nichts gegen Männer, die sie ansprechen.«
Carlo warf Nero einen finsteren Blick zu.
»Frau Laverde ist in Gefahr«, erklärte Nero.
Der Barkeeper drehte einen Knoten in den Schalenfaden und hakte ihn am Rand eines Cocktailglases fest. Nero legte seine Karte und 20 Euro auf den Tresen. »Rufen Sie mich an!«, sagte er. Er wandte sich zum Gehen, rief zurück zur Bar: »Ach, übrigens, kennen Sie einen gewissen Herrn Lehr?«
»Nie gehört.«
33.
Jenny ist nicht zu Hause. Normalerweise sehen Andy und Gina es nicht gern, wenn ihre Tochter spät abends unterwegs ist, aber heute veranstaltet ihre Volleyballmannschaft eine Weihnachtsfeier. »Das ist harmlos«, hat Gina zu ihm gesagt. »Du musst ihr Freiraum geben. Ihre Trainerin ist dabei, und ich hole sie spätestens um 22 Uhr ab.«
Andy hat Ginas Vorwurf deutlich gehört. Auch wenn er sie oft nicht sofort versteht, weil sie immer schneller redet, je hektischer sie ist. Üblicherweise bestehen ihre Tage nur aus Hast und Eile. »Bald ist Weihnachten. Ich habe vorher noch so viel zu erledigen, Andy, der Job ist kein Honigschlecken.«
Gina ist völlig ausgelaugt. Reizbar und launisch. Überarbeitet. Er hat zweimal versucht, mit ihr darüber zu reden. Sie muss ihr Pensum herunterschrauben. Aber er hat nicht sagen können, was ihn bewegt, und sie hat nichts begriffen. Regte sich auf, er verstünde nicht, was da draußen los sei, sie reibe sich auf, um ihm und der Tochter ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Das Geschäft funktioniere nicht, wenn sie nicht volle zwölf Stunden am Tag den Kunden zur Verfügung stünde. Ob er überhaupt eine Ahnung vom Münchner Wohnungsmarkt habe. Von der Konkurrenz, den Preisen, den Schmiergeldern. Wo sie alles daran setzt, dass ihr Business sauber bleibt!
Andy hat es aufgegeben. Er wird Gina nicht vorwerfen, dass sie ihn so oft alleine lässt. Aber an Jennys Gesellschaft am Abend hat er sich gewöhnt, selbst wenn sie nur in ihrem Zimmer sitzt und mit ihrer neuen Kamera experimentiert. Sie hat ihm einmal gezeigt, wie sie Bilder mit einer Software verfremden kann. Fotos kann man nicht mehr glauben, hat Andy dabei gedacht. Vielleicht noch eher gemalten Bildern. Sie verraten mehr über die Realität. Ja, Jenny ist immer da, ein Fels an Beständigkeit. Sie ist erst 14. Da geht sie einmal einen Abend vor Weihnachten aus, und schon dreht er durch. Bei dem Gedanken, wie sein Leben aussehen wird, wenn sie erwachsen ist und davonzieht, um ihr eigenes Leben auszuprobieren, wird ihm kalt.
Er hätte eine Menge zu tun. Zum Beispiel die Liste vervollständigen, die er sich angelegt hat, um keine Einzelheit zu vergessen, die er Kea noch sagen will. Sie legt viel Wert auf Details. Die Liste besteht hauptsächlich in seinem Kopf, aber als Eselsbrücken macht er sich manchmal Vermerke auf einem Zettel. Zahlen kann er ganz gut schreiben, und er erfindet Symbole, die für etwas stehen, das nur er zu interpretieren weiß. Das muss er Kea erzählen, dass er eine eigene Geheimschrift entwickelt, er, der Aphasiker, den sie da draußen für einen Trottel halten. Er versteht nicht ganz, wie Kea beim Schreiben eines Buches vorgeht. Aber er hat Vertrauen, und das zählt.
Er sitzt im dunklen Wohnzimmer und starrt vor sich hin. Er braucht noch Weihnachtsgeschenke. »Internet«, sagt er laut und deutlich, weil es ihn manchmal beruhigt, seine eigene Stimme zu hören.
»Internet«, wiederholt er und steht auf. Geht in Jennys Zimmer hinüber und lässt die Jalousien herunter, ehe er Licht macht.
Er fährt den Rechner hoch. Jenny hat die neue Kamera mit zur Weihnachtsfeier genommen. Das Team hat eine eigene Internetseite. Die Mädchen stellen Fotos und Filme von ihren Spielen, von Siegerehrungen und Partys ins Netz. Andy findet das ziemlich albern und zudem gefährlich, denn mit Daten aus dem Internet wird Schindluder getrieben. Aber die jungen Leute machen das alle. Es gehört zu ihrem Lebensgefühl, und der Sog der Freunde zieht jeden mit. Im Teenageralter traut sich niemand, ein Individuum zu werden; man lässt lieber seine Freunde bestimmen, was man macht und was nicht. Jenny bildet da keine Ausnahme. Andy kann mit ihr über all das nicht reden. Er spürt die Hitze und das Brennen auf der Haut,
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