Schweigfeinstill
das neuerdings immer stärker wird, wenn ihm bewusst wird, wie abgeschnitten er von der Welt ist, obwohl er sich in ihr bewegt. Er schweigt still. Schweigt sich zu Tode. Seine Gesprächspartner erstarren in seiner Gegenwart. Sind froh, sich abwenden, mit einem anderen reden und herumalbern zu können. Schweigen, nur immer schweigen. Manchmal Worte auswerfen wie Erbrochenes, vor denen sich jeder ekelt, weil sie klumpig und unansehnlich sind. Andy hasst sich. Früher liebte er Spitzfindigkeiten und rhetorische Abgründe. Er hat die Ironie kultiviert und viel Spaß mit Gina gehabt. Als sie sich kennenlernten, waren ihre verbalen Schlagabtausche wie Turniere, in denen sie Maß nahmen, um herauszufinden, wo der andere stand und wie weit er noch gehen würde. Diese Kabbeleien wurden immer ernster und verbohrter, bekamen hintergründige Absichten und verloren den Charakter eines Spiels. Trotzdem machten sie Spaß. Damit ist es nun vorbei. Schweig fein still.
Andy tritt mit dem rechten Fuß gegen Jennys Sitzsack. Wenigstens das Bein hat sich erholt. Er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass auch die Sprache irgendwann zurückkommt. Zehn Jahre, hat der Neurologe gesagt. Dann wird Andy sich ausdrücken wie ein Ausländer, der mit dem Deutschen nicht ganz auf du und du ist. Aber er wird sprechen.
Die Windows-Oberfläche baut sich auf. Andy klickt sich ins Netz. Weil er sich schwertut, die URL selbstständig in die Adressenleiste einzugeben, klickt er immer auf den Pfeil daneben und lässt sich die zuletzt besuchten Seiten zeigen. Dafür muss er oft gar nicht lesen, denn er erkennt die Seiten, die er gerne ansieht, an den kleinen Icons davor. Zum Beispiel die BR-online-Seite. Andy bedient die Maus mit der linken Hand, und wie so oft klickt er daneben. Eine ganz andere Seite baut sich auf. Der Hintergrund ist violett. Was auf der weißen Fläche steht, kann er nicht lesen. Nur das Wort ›Jenny‹ erkennt er als ganzes, er braucht die einzelnen Buchstaben nicht zu segmentieren. Er drückt die Returntaste. Eine Menge Fotos erscheinen auf dem Bildschirm. Andy ist neugierig. Auf einem sieht er Gina auf einem verschneiten Gehsteig vor einem Haus. Sie sieht schick aus. Neben ihr wartet ein Mann. Wahrscheinlich einer ihrer Klienten, dem sie eine sündhaft teure Wohnung andreht. Andy bewegt den Cursor auf das Bild und klickt, um es größer zu sehen. Aber es ist kein Foto! Andy staunt. Das Bild beginnt sich zu bewegen. Verblüfft, unbewegt schaut er sich den Film an. Seine Frau lässt den Mann die Haustür aufschließen. Das Bild verschwimmt, Schnitt, er sieht Gina auf einer Massageliege ausgestreckt. Nackt. Andy hört seinen eigenen, keuchenden Atem. Halt, es ist nicht seiner, das Hecheln kommt aus den Lautsprechern am Computer. Andy dreht den Volume-Knopf. Er braucht eine Weile, bis er versteht, dass er Jennys aufgeregte Atemzüge hört. Beim Filmen mit der neuen Kamera ist ihr Mund nah am Mikrofon.
Der Mann von eben kommt ins Bild. Er trägt T-Shirt und Jeans, lächelt, sagt etwas, das Andy nicht versteht. So gut ist die Kamera nicht, dass sie von außen ein Gespräch im Zimmer aufnimmt. Der Mann streckt seine Hände unnatürlich in die Luft. Wie ein Chirurg vor der OP. Er tritt an die Massageliege und beginnt, Gina zu massieren. Andy sieht, wie sich seine Frau dem Mann hingibt. Einem Mann mit zwei gesunden Händen. Er spürt die Intimität und Behaglichkeit des Augenblicks. Der Mann streicht Gina über die Wirbelsäule. Mit nur einem Finger. Sie schüttelt sich und lacht. So hat er sie lange nicht gesehen. Sie ist entspannt. Redet und lächelt.
Der Kerl knetet ihre Pobacken. Andy hockt wie gebannt an Jennys Schülerinnenschreibtisch. Wie kommt sie dazu, ihrer Mutter nachzuspionieren und sie heimlich zu filmen? Die Gedanken schmerzen in Andys Kopf. Hat Jenny schon lange gemerkt, dass es da einen Masseur gibt? Einen charmanten Mann mit verwegenem Gesichtsausdruck? Andy weiß es ja, es gibt irgendwo einen Kerl, aber er hat nicht mit so etwas gerechnet. Er hat den Apfelsinengeruch in der Nase, während er mit brennenden Augen auf den Bildschirm starrt. Hat Jenny deswegen die Digitalkamera so dringend vor Weihnachten haben wollen? Andy weiß nicht, was er denken soll. Die Unterhaltung zwischen Gina und dem Mann wird angeregter. Irgendwie auch hektischer. Als Gina den Kopf hebt, sieht er ihrer Mimik die Getriebenheit an. Das ist eher die Frau, die er jeden Tag erlebt. Der Mann lässt von ihr ab und tritt ein paar Schritte
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