Schweigfeinstill
entlangrasten oder zu Fuß umherwuselten, fragte ich mich, was genügte, um ein zufriedenes Leben zu führen. Ein Job, eine Beziehung, eine Wohnung, Geld? Ich hatte vor Wochen mit Myrthis darüber diskutiert, wie man mit Leuten zurechtkam, deren einziges Gesprächsthema Kochrezepte und Arztbesuche waren. Myrthis nannte diese Lebensform amorph und behauptete, sie bestünde vornehmlich aus Leere, aber die Menschen, die diese Leben führten, mussten genau das kaschieren und stürzten sich deshalb in Aktivismus. Ich hatte damals laut gelacht und hinzugefügt: Und du verkriechst dich in deine Forschung. Myrthis hatte kein Problem, das zuzugeben. In ihrem Blick jedoch hatte ich eine Frage gelesen: Was ist mit dir, Kea? Vergräbst du dich in den Leben anderer, weil dir dein eigenes nicht genügt?
Kurz nach neun hielt ich in Bogenhausen und klingelte bei Steinfelders. Inzwischen war die Dunkelheit einer grauen, schmierigen Dämmerung gewichen.
Andy öffnete mir die Tür. Er hatte eindeutig weniger geschlafen als ich. Dunkle Ringe umschatteten seine Augen wie Krater.
»Guten Morgen, Andy.«
»Morgen.« Heute sah er nicht so begeistert aus wie sonst, wenn er mich sah.
»Darf ich reinkommen?«
»Gestern!« Andy holte nervös Atem. Wie so oft pumpte er Luft in seine Lungen, mehr und mehr, als wolle er einen Tauchgang absolvieren. Und wie so oft ging gar nichts. Die Nervosität schnürte ihm die Kehle zu, und die langen Tunnels, die von jenen mentalen Untiefen herkamen, in denen die Sätze entstehen, schienen eingestürzt und von Geröll verstopft.
Ich redete über das Wetter, die matschigen Straßen und den grauen Himmel, um ihm ein paar Minuten zu geben, in denen er sich beruhigen und konzentrieren konnte.
»Gestern. Kea. Anrufen.«
»Sie haben mich gestern angerufen«, sagte ich.
Er nickte.
»Aber als ich drangehen wollte, hatten Sie schon aufgelegt.«
Das war ein schwieriger Satz für Andy. Zu viele Verschachtelungen, Überlegungen, die einander bedingten, die der Kopf in die richtige Reihenfolge bringen musste. Andy hielt sich jedoch nicht mit Verständigungsversuchen auf.
»Komm!«, sagte er im Befehlston und ging mir voraus ins Zimmer seiner Tochter. Mir fiel auf, dass er mit dem Laufen heute mehr Probleme hatte als sonst. Er zog das rechte Bein deutlich nach.
In Jennys Zimmer lief der Rechner. Ich sah mich verstohlen in diesem Mädchenreich um. Jenny mochte Tiere, das sah man an den Pferdepostern und der Menagerie aus plüschigen Freunden auf ihrem Bett. Aber sie interessierte sich auch für Technik und Computer. Ich entdeckte ein paar Informatikbücher in ihrem Regal.
»Schau!« In der Aufregung duzte Andy mich. Ich warf einen Blick auf den Bildschirm. Das haute mich um. Da liefen Pornos. Richtig harte. Zu hart für die Legalität. Frauen in Ketten, Frauen kopfüber aufgehängt, Frauen mit Elektroden an den Genitalien. Ich starrte wie ein Volltrottel. Andy klickte, und das Bild stand. Es verschwand, und ein weiteres tauchte auf. Ein Hauseingang, zwei Menschen. Gina und noch einer. Der elegante Mann im Mantel. Gina auf einer Massageliege. Nackt. Die Hände des Eleganten begannen auf Gina Steinfelders Rücken zu tanzen. Ich wechselte einen Blick mit Andy. In seinen Augen glänzte Hilflosigkeit. Beide glotzten wir auf den Bildschirm, bis der Film endete.
»Verflucht!«, sagte ich laut.
»Verfluchte Scheiße!«, sagte Andy, und mitten in dieser ganzen Misere mussten wir lachen.
38.
Zehn Minuten später, nach einer schnellen Tasse Nescafé, hockte ich vor Jennys Rechner und klickte durch sämtliche Ordner, die Jenny chronologisch unter ›eigene Dateien‹ angelegt hatte. Ich bekam schnell heraus, was Andy entgangen war: Sie hatte die Pornos aus dem Internet heruntergeladen, während sie den Film, den sie selbst produziert hatte, ins Netz gestellt und über einen Link auf den Seiten des Volleyballteams zugänglich gemacht hatte. Ich suchte nach weiteren Dateien mit dem Zusatz AVI hinter dem Punkt, um Jennys eigene Produktionen auf der Festplatte zu finden, aber es gab nur diesen einen Film. Sie musste von dem Gerüst im Hinterhof aus in die Wohnung gefilmt haben. Ich stand auf und kramte durch Jennys Regale. Ich sollte das nicht tun. Ich war die Ghostwriterin ihres Vaters, keine Tussi von der Jugendhilfe und keine Polizistin. Im Schreibtisch entdeckte ich die Digitalkamera und schaltete sie an. Die Chipkarte war noch recht leer, ich fand lediglich die Fotos wieder, die sie mir auf der Straße gezeigt hatte.
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