Schweizer Ware
absichern.
»Ciao«, sagte Baumer mit kühler Stimme. »Habt ihr irgendeine konkrete Spur?«
»Nein. Hat niemand was gesehen«, antwortete der Zivilfahnder ebenso abweisend. »Warum bist du überhaupt zurück in Basel?«
Rötheli musste irgendwo in einer Kneipe sein. Baumer hörte im Hintergrund das Mahlwerk einer Kaffeemaschine kreischen, mehrere Leute quatschten wild durcheinander. Ihre Stimmen hallten von den Wänden und schlugen ineinander.
»Ciao«, warf Baumer dem Chef der Zivilen das Adieu vor die Füße und kappte die Leitung. Wozu mit ihm über die Details plaudern? Baumer hatte schon geahnt, dass niemand etwas Auffälliges beobachtet hatte. Ansonsten hätte es Beat Rötheli sicher stolz verkündet. Also gab es keine heiße Spur. Kein Nachbar hatte einen möglichen Besucher bei Frau Amadio-Meier kurz vor der Tatzeit in die Wohnung gehen oder später wieder herauskommen sehen.
Schlappe Vermutungen gab es hingegen genügend. Es war selbstredend, dass Rötheli auf Nachfrage Dutzende von Hinweisen bekommen hatte, wer alles im Bachlettenquartier unterwegs gewesen sei. Zunächst die Bewohner des Quartiers selbst. Dann kamen dazu noch ein paar Fremde. Große und kleine. Dicke und dünne. Alte und junge, jugendliche, schmächtige, fette, einige mit Mütze, andere ohne. Krawatten wurden durch das Quartier getragen. Handtaschen auch. Immer öfter Kopftücher. Neu auch immer mehr Roma, Inder, Nigerianer. Stark Übergewichtige hatten stark übergewichtige Hunde hinter sich hergeschleift – oder umgekehrt. Mütter schoben Kinderwagen durchs Quartier. Türken, Albaner, Holländer, Russen, Amerikaner, Engländer, Deutsche, zwei Elsässer, noch ein Deutscher (groß, mit Schnauz) waren durch die Straßen gegangen. Jeder war einzigartig in seiner ganz individuellen Kombination von Rasse, Geschlecht, Alter, Statur und Kleidung. Aber jeder war auch völlig unauffällig in der Basler Stadtgesellschaft, die sich in viele Parallelgesellschaften aufsplitterte. Keiner trug ein Schild auf dem stand: »Ich bin der Mörder«. Ob der Täter einen Schnauz trug oder nicht, würde man wissen, wenn man ihn erwischt hatte.
Andreas Baumer rückte näher an seinen Schreibtisch und presste seine Lippen zusammen, atmete flach. Er packte die Unterlippe mit seinen Schneidezähnen und zog sie in den Mundraum.
Baumer war sich bewusst, dass er nichts hatte. Kein Gar Nichts. Nada. Niente. Keinerlei Spur im Spital.
Er sah auf seinen Schreibtisch. Der war ebenso leergefegt wie seine geistige Landschaft. Mit leerem Blick stierte er vor sich hin. Plötzlich nahm er einen Krümel auf der Tischplatte wahr. Er machte eine unbewusste Wischbewegung mit der Hand, um ihn wegzuwischen. Er klebte auf der Oberfläche, drückte scharf in seine Fingerspitzen, und aktivierte tausend Nervenenden.
Ein Krümel. Ein Puzzleteil. Eine unbedarfte Äußerung. Ein Zeichen, eine Geste, ein verdächtiger Gegenstand. Baumer stützte sich mit beiden Ellenbogen auf die Tischplatte seines Schreibtisches, drückte die Hände in den Kiefer. Er marterte sich den Kopf, versuchte sich zu erinnern, ob er im Fall Amadio-Meier einen wichtigen Krümel nicht beachtet hatte. Wenn er nur ein Columbo wäre, dachte er immer wieder. Sicher gab es schon einen Hinweis, der ihn zum Mörder führen würde. Nur wo, wo, wo? Er hatte ihn wohl einfach übersehen.
7
Anna.
Baumer hatte sie vergessen.
Der Kommissar stand am Fensterbrett an der breiten Front des ilcaffès, als ihm die Erinnerung an seine Freundin kam. Weil er im Büro nicht weitergekommen war im Fall, war er hierher gewechselt. Er hatte eine Kaffeepause machen wollen. Prompt kamen ihm jetzt, wo er einen Moment der Ruhe fand, wieder die Gedanken an seine neue Partnerin. Es war allerhöchste Zeit, sie anzurufen.
Baumer nahm das Handy. Er inspizierte neugierig das Display. Insgeheim hatte er gehofft, dass er eine SMS von ihr bekommen hatte, deren Eingang jedoch nur nicht bemerkt hatte, als er vom Stützpunkt Spiegelhof über die Schifflände und den lauten Marktplatz hinüber ins ilcaffè gegangen war. Die Anzeige war aber leer. Sie hatte sich nicht gemeldet.
Andi Baumer sah seine Krankenschwester vor sich, ihren wundervollen Körper. Er war wohlproportioniert und selbst dort, wo der große Anatomist scheinbar einen Fehler gemacht hatte, war alles im Lot. Diese winzigen Variationen des Bauplans brachten den Körper im Auge des Betrachters zum Schweben. Ohne diese leichten Irritationen wäre Anna nur ein ansehnliches, aber
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