Schweizer Ware
nächsten Schnappen dauerte es wieder eine unnatürlich lange Zeit.
So ging es fort.
Die Krankenschwester hatte Baumer vergessen. Sie stand bei der Greisin und hielt ihr die Hand. Sie war da für Sophia Rüdiger auf ihrem schweren Gang und begleitete sie. Mehr konnte sie nicht tun, denn es gab nichts zu tun. Keine Adrenalinspritze hätte hier noch etwas ausrichten können. Keine Wärmeflasche die Kälte abhalten können, die Sophia Rüdiger an den Beinen gepackt hatte und sich langsam im Körper nach oben bewegte, so wie im Januar kalter Schnee kommt und vom Land Besitz ergreift. Wie er zuerst zögerlich, aber dann unerbittlich ins Tal herein marschiert und schließlich alles Grüne und O liv- und O ckerfarbene mit einer weißen Decke zudeckt. Eine Decke, die zuerst luftig daherkommt, aber sich immer schwerer auf die Landschaft legt, bis alles zugedeckt ist.
So rang Sophia Rüdiger, von ihren guten Freunden Sophi genannt, nach Leben. Sie sog es ein in kleinsten Häppchen, während die übermächtige Kälte ihren verwelkten Körper einpackte und die Schwester ihre knochige Hand hielt.
Plötzlich schien Leben in die Alte zu kommen. Wollte sie Baumer noch etwas sagen? Er beugte sich vor, bemühte sich, zu hören, was sie mitzuteilen hatte.
Nein, sie riss die Augen auf, ohne ihn wahrzunehmen, kämpfte sich hoch. Sie schlug die dargebotene Hand der Schwester aus und hob ihre arthritischen Hände in Richtung Zimmerdecke. Sie schien nach etwas greifen zu wollen. Dazu machte sie Bewegungen, fast so wie ein Hund im Wasser den Kopf hebt und stiert und mit den Pfoten schlägt um vorwärts zu kommen. Sah sie ein unendlich helles Licht? Boten sich ihr mehrere Hände zugleich hilfreich dar, nach denen sie erfreut griff?
Baumer und die Schwester sahen wie Sophia Rüdiger kraftvoll zappelte und strahlte. Dann sank sie ansatzlos zurück, ihre Arme fielen neben ihren Körper herunter. Ihr Kopf sackte ins Kissen und nach hinten. Ein langer Moment der Stille – und Sophia Rüdiger atmete ein letztes Mal aus. Es war ein erstaunlich kräftiges Ausatmen. Es schwoll schnell an. Es war stark. Anhaltend. Dann ebbte der Luftstrom ab. Dann versiegte er ganz. Ein Moment der Ruhe. Die Tote fiel vollends in sich zusammen. Der Kopf rollte zur Seite, das Kinn rutschte herunter.
Exitus.
*
Gegen vier Uhr nachmittags war Baumer in seinem Büro im Spiegelhof. Der Tod von Sophia Rüdiger hatte in seinem Gemüt Spuren hinterlassen. Es war ein fremder Mensch, der vor seinen Augen gestorben war.
Aber ein Mensch.
Baumer saß unbeweglich in seinem Bürostuhl. Er hielt die Arme ausgestreckt, die Hände lagen flach auf dem Schreibtisch. Er versuchte zu rekapitulieren, was geschehen war. Drei Frauen, die Helen Amadio-Meier gekannt hatte, waren im Spital gestorben. Sie würden jetzt im Himmel vereint sein. Oder wo immer auch sich die Seelen Verstorbener treffen mochten. Wahrscheinlich hätten sie es gut zusammen, dort wo sie waren. Würden Karten spielen oder schwatzen. Kaffee trinken.
»Wirres Zeugs«, schalt sich Baumer ob dieser verqueren Gedanken. »Konzentrier dich auf das, was ist.«
Was ist?
Vier Frauen waren tot. Drei waren einem natürliche n Tod erlegen – so nahm er an. Eine musste hingegen durch Mörderhand von dieser Welt. Hingen die Tode irgendwie zusammen? Das müsste man alles überprüfen, obwohl es auf den ersten Blick unwahrscheinlich war, dass alle vier Frauen ermordet worden waren. Baumer hatte gesehen, wie Frau Rüdiger gestorben war. Sie war am Ende ihres Lebens angekommen. Sie hatte sich noch einige Wochen lang gewehrt, den letzten Gang zu machen. Aber schließlich war sie abgeholt worden und war gegangen, ohne groß Adieu zu sagen. Bei ihrem Tod hatte unmittelbar niemand die Hand im Spiel. Und mittelbar? Es schien unwahrscheinlich, aber war es auch unmöglich? Baumer hatte mitverfolgt wie Lea – so hieß die hoch gewachsene schlanke Krankenschwester – die alte Frau versorgt hatte. Lea hatte dies mit großer Hingabe, ja eigentlicher Zuneigung, für diese Greisin getan. Es war mehr Fürsorge, als man es inmitten dieser ganzen technischen Notwendigkeiten des Spitalbetriebs erwarten durfte. Kein Zweifel. Lea war eine exzellente Pflegefachfrau, die dem Kantonsspital Basel Ehre machte. Oder war sie nur eine exzellente Schauspielerin? Vielleicht hatte sie ein wenig zu viel Mitleid?
»Nein, nein«, rief Helen Amadio-Meier plötzlich. »Die Lea ist eine Nette. Denk doch nicht so dummes Zeugs.«
Baumer kratzte sich
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