Schweizer Ware
auf dem Hals und verdeckte dort die groben Falten.
Baumer sagte nichts. Er betrachtete dieses Geschöpf ohne Hast. Er sah nichts außer dem Kopf. Der restliche Körper schien verschluckt vom Spitalbett. Von der Seite sah die Frau aus wie die Geliebte von Hodler. Dieser Ferdinand Hodler, der seine Freundin gemalt hatte, die an Krebs erkrankt war. Immer wieder hatte er sie verewigt, hielt fest, wie sie immer schwächer wurde, wie sie langsam auszehrte. Schließlich malte er sie auf dem Totenbett, mit ausgemergeltem Gesicht, leichenblass. Sophia Rüdiger lebte hingegen noch. Ein einzelnes leichtes Zucken ging jetzt durch ihr Gesicht, und ein angestrengtes Einschnaufen unterbrach den gleichmäßigen Rhythmus, mit dem sie an der Welt hing. Dann ging das langsame und beinahe geräuschlose Ein- und Ausatmen weiter. Nach ein paar Atemzügen schnappte die Greisin erneut abrupt Atemluft ein.
Was tun?
Baumer hatte sich bisher nicht getraut, die Frau etwas zu fragen. Zu ehrfürchtig hatte er sich ihr genähert. Hätte ihm Sophia Rüdiger überhaupt noch etwas logisch Durchdachtes mitteilen können?
Zum Glück ging die Tür auf, und Baumer wurde die Entscheidung abgenommen, wie er weiter verfahren sollte. Herein kam eine etwa 28-jährige, hochgeschossene Krankenschwester mit halblangen blonden Haaren. Sie war schlank und zugleich drahtig. Ihre betörende Figur wurde durch eng anliegende Hosen und ein knappes T-Shirt noch betont.
Sie blickte erstaunt, dass hier ein Mann, geschätzte 40 Jahre alt, im Zimmer stand. Natürlich war sie sofort misstrauisch. Zu Recht. Was hatte sich Baumer ohne zu fragen eingeschlichen? Doch nach einem weiteren musternden Blick sprach sie den Besucher mit einem freundlichen Guten Tag an. In seinen fragenden Augen musste sie gesehen haben, dass kein Böser im Zimmer stand.
»Guten Tag«, erwiderte Baumer den Gruß und gab sogleich den Zutritt ans Bett frei.
Die Schwester beugte sich zur Greisin. Weiter sagte sie nichts zum Mann im Zimmer. Natürlich würde dieser Mensch sicher erklären, in welcher Beziehung er zu ihrer Sophia stand.
»Mein Name ist Baumer.«
Die Schwester fühlte den Puls ihrer Patientin, fragte dann, ohne ihre Aufmerksamkeit von ihrer Patientin abzulassen: »Sind Sie verwandt?«
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Baumer und wusste doch, es war nicht zu entschuldigen, dass er hier eingedrungen war. »Ich bin Kriminalkommissar. Ich ermittle in einem Mordfall.«
Die Schwester erschrak. »Um Himmels willen!«
»Keine Angst«, beeilte sich Kommissar Baumer, die Frau zu beruhigen, die instinktiv von ihm zurückgetreten war und sich neben Sophia Rüdiger gestellt hatte. Ihren Arm hatte sie beschützend um deren Kopf gelegt.
»Es geht nicht um Frau Rüdiger«, erklärte Baumer. »Sie ist nur die Freundin einer Frau, die ermordet wurde.«
»Was ist geschehen?«, fragte die sicherlich über 1 Meter 85 große Krankenschwester. In ihrem Blick sah Baumer Angst, aber auch die Bereitschaft zu kämpfen. Sie stand da, unschlüssig, nicht wirklich erkennend, was auf sie und ihre Patientin zukommen würde. Immer noch hatte sie die greise Puppe im Bett zart umfasst.
Baumer sprach sie beruhigend an. »Haben Sie keine Angst. Ich wollte Frau Rüdiger nur ein paar Fragen über die Ermordete stellen, eine gewisse Helen Amadio-Meier.«
Jetzt riss die Krankenschwester die Augen weit auf. Es war offensichtlich, dass die Schwester die alte Amadio gekannt haben musste. Ohne Zweifel hätte Helen Amadio-Meier bei ihren vielen Besuchen das Pflegepersonal unterstützt, so gut es ging. Sie hätte ihrer Freundin eingelöffelt, wenn sie über Mittag da war. Hätte das Kissen aufgeschüttelt. »So, Sophi, jetzt bist du wieder elegant«, hätte sie aufmunternd gesagt, wenn sie die Decke sorgfältig um den geringen Körper ihre Freundin geschlagen hätte. Diese nette Frau. Helen Amadio-Meier. Sie war jetzt tot?
»Ermordet?«, wisperte die Krankenschwester.
Baumer nickte deutlich.
»Das ist ja schrecklich«, ängstigte sich die große Angestellte und drehte sich zu der ihr anvertrauten Person im Bett. Diese hatte zweimal nach Luft geschnappt. Dazwischen war ein langer Moment der Stille gelegen, in dem man den Atem kaum ausströmen hörte. Die Greisin lag da, scheinbar unbeweglich. Dann plötzlich schnappte sie wieder nach Luft. Alsbald lag sie wieder ruhig da.
Baumer wartete auf den nächsten Atemzug. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Vogel erneut nach Luft sog. Dann war Ruhe und bis zum
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