Schweizer Ware
letztlich unerfüllt blieb. Oder vielleicht genau deswegen?
Auch nach dem Traum in dieser Nacht war es ein schmerzhafter Prozess gewesen, aufzuwachen und ein weiteres Mal in die Welt geworfen zu werden. Es war wie ein Sterben, das man in umgekehrter Richtung durchlebte. Alles Glück einer paradiesischen Harmonie musste zurückgelassen werden und der Schmerz legte sich als durchnässte und halb eingefrorene Winterkleidung auf die nackte bibbernde Haut.
Endlich stand er auf und machte sich mit seiner kleinen Kaffeemaschine von Bialetti einen Kaffee. Baumer besaß alle Größen dieses italienischen Geräts. Am Morgen nutzte er immer die Kanne für fünf Espressi. Baumer goss den ganzen Inhalt dann in eine einzige größere Tasse, fügte kalte Milch dazu und machte sich so einen ersten knackigen Morgenkaffee.
Als er jetzt mit dem Kaffee so dasaß, fiel ihm plötzlich ein, dass auch die Amadio darin erschienen war. Sollte das etwas bedeuten?
Baumer glaubte nicht an Übersinnliches. Die tote Amadio hatte ihm auf diesem Weg sicherlich keine geheime Botschaft schicken wollen. Es war ihm einfach das im Schlaf erschienen, was ihm momentan eh im Kopf herumging und ihn plagte.
Und doch.
Vielleicht hatte sein Unterbewusstsein gearbeitet, hatte Fakten geordnet und Sinn hergestellt. Baumer versuchte sich zu erinnern, was die Rentnerin im Traum gesagt hatte. Es dauerte ein wenig, bis er draufkam: Sie will, dass ich sie besuchen komme?
Baumer wurde unruhig. Wollte sein Unbewusstes, dass er nochmals zur Wohnung der Amadio ging? Hatte er dort etwas übersehen? Rasch überschlug er, was er alles dort gesehen hatte. Es fiel ihm nichts besonders auf.
Also überschlug er erneut alle möglichen Gedanken, die er zum Fall Amadio-Meier bisher hatte: Mord durch Stich ins Genick; kein Verdächtiger; kein erkennbares Motiv. Der wichtigste Ansatzpunkt war natürlich, dass Helen Amadio ihn unbedingt hatte sprechen wollen. Daraus hatte er geschlossen, dass die alte Baslerin ihm etwas sehr Bedeutendes mitzuteilen hatte, eine kriminelle Machenschaft wahrscheinlich, von der die Frau erfahren hatte. Von wem erfahren? Wen betreffend? In ihrem Notizbüchlein waren ihm viele Telefoneinträge aus dem Spital aufgefallen. Daher war er losgezogen und hatte die alten Bekannten von Frau Amadio besucht, die dort eingeliefert worden waren. Doch hatte er keine Anhaltspunkte für ein Verbrechen gefunden. Sophia Rüdiger war gestorben, wie jeder einmal sterben muss. Sie ging ins Licht und ließ nur ihren Körper zurück. Ihr Tod war dieses abschließende Glied, das die Kette des Lebens zu einem geschlossenen Kreis zusammenfügt. Danach sieht man weder Anfang noch Ende. Jetzt sagte ihm die alte Amadio im Traum, dass er sie nochmals besuchen kommen solle. Besuchen! Er musste also bei ihr zu Hause suchen gehen? War es etwa doch ein naher Bekannter, ein Verwandter gar, der die kleine vife Rentnerin um ihren wohlverdienten Ruhestand gebracht hatte?
Plötzlich hörte Andreas Baumer, Kriminalkommissar in Basel und von seinen Kollegen – wie alle hartnäckigen Wissensarbeiter – als Sonderling abgestempelt, eine innere Stimme. Helen Amadio, geborene Meier sagte: »Komm schon, Andi! Ich will dir etwas zeigen.«
»WAS?«, schrie Baumer, und sein Schrei hallte in seiner Küche wider. Er erschrak selbst darüber, und prompt zerplatzte der stille Dialog mit der Ermordeten.
Andi schnaufte wütend. Er versuchte die hohe Stimme der Amadio wiederzufinden, aber es war vergebens. Alles war er jetzt hörte, waren die Geräusche seiner Umwelt. Seine Küchenuhr, die tickte. Die seichte Musik im Radio. Weit weg schleuderte dumpf eine Waschmaschine. Durch die Fensterscheiben hindurch vernahm er eine Lautsprecherdurchsage vom Bahnhof. Es war die Stimme einer Frau. Sie kam aus dem Computer. Der hatte die zuvor aufgezeichneten Informationsbrocken perfekt zusammengestellt und spielte sie jetzt nacheinander ab. Die gespeicherte Frau sprach mit fehlerloser Grammatik, in überdeutlicher Aussprache. Ihre Hinweise klangen erstaunlich flüssig, einzig ein klein wenig abgehackt: »Einfahrt des Intercitys. Von. Zürich. Mit. Vier Minuten. Verspätung. Auf Gleis. Drei.«
Als kurze Zeit später der Intercity aus Zürich im Bahnhof Basel SBB einfuhr, hatte Baumer seinen Entschluss gefasst und war bereits unterwegs zu Helen Amadio-Meier. Er würde sie besuchen. Sie würde mit ihm sprechen. Würde ihm Informationen geben. Er würde den entscheidenden Hinweis in der Wohnung finden. Er müsste
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