Schweizer Ware
denn Anna war nett und hatte es nicht verdient, so behandelt zu werden. Also bejahte er ihre Frage.
Baumer wäre nicht erstaunt gewesen, wenn sie ihn weiter gescholten hätte. Doch sie schien nachzudenken, was sie mit diesem Baumer noch wollte. Deshalb fragte sie ihn in einem Tonfall, der zeigte, dass seine Antwort ihr wichtig war. »Tut es dir wirklich leid, Andi?«
»Ja. Es tut mir wirklich leid.« Doch kaum hatte er diesen Satz ausgesprochen, merkte er, dass er eigentlich nur ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber hatte. Er versuchte deshalb, das Gespräch weg von Schuld zu lenken. »Was machst du jetzt?«
»Oh, ich genieße den Tag. Endlich mal kein Stress. Nur daliegen und die Sonne genießen.«
»Wie geht es deinem Rücken?«
Anna lachte auf. »Ha, der Rücken ist okay«, gluckerte sie, »dafür ist mein Bauch jetzt rot.«
»Hast du dich nochmals verbrannt? Tut es weh?«
»Nein, nein, es geht schon. Ich habe Glück gehabt. Es ist nicht so schlimm wie auf den Schulterblättern. Und dein Joghurt-Trick wirkt wahre Wunder.«
»Bleibst du weiter nur am Pool?«
»Nein, nicht mehr, jetzt fahre ich immer mit Anita an den Strand.«
Baumer wunderte sich nicht, dass Anna Anschluss gefunden hatte. Er musste nicht einmal nachfragen, wer diese Anita sei. Anna erzählte es freudig. »Anita kommt aus Lörrach. Du, die saß im selben Flieger wie wir.«
»Ist sie allein?«
»Sie ist mit ihrem Kind da, ein Mädchen. Es heißt Stephanie und ist vier. Wir haben uns kennengelernt, als wir mit der Eisenbahn an den Strand fuhren.«
»Was für eine Eisenbahn?«, fragte Baumer, der von keiner Bahnlinie auf Kreta wusste.
»Na, dieses Tschu-tschu-Bähnchen. Dieses Elektrodings, das die Touristen herumfährt.«
Andi Baumer erinnerte sich nun an dieses kitschige Gefährt, dessen Zugelement einer Dampflokomotive nachgebildet war und in dem die Touristen in offenen Wägelchen von Hotel zu Hotel gefahren wurden.
Anna fuhr fort. »Ja, und dann stand die Anita mit der Stephanie an der Station, und wir sind nebeneinander eingestiegen und …«
Er hörte Schritte auf der Treppe. Die nur angelehnte Wohnungstür wurde langsam aufgeschoben, die Türangeln quietschten.
Baumer erschrak. Er fuhr herum und ließ beinahe das Handy fallen. Er starrte in die Richtung der Wohnzimmertür, hinter der der Eingangsbereich der Wohnung lag.
Langsam wurde sie geöffnet.
*
Ein großer, stattlicher Mann mit dünnem Schnurrbart, gekleidet wie ein Monsieur und etwas über fünfzig Jahre alt, erschien in der geöffneten Tür. Erschreckt fuhr er zusammen, als er einen fremden Mann auf dem Sofa liegen sah und wich verängstigt zurück. »Wer sind Sie?«
»Ich bin Kommissar Baumer!«
»Kommissar?«
»Ja. Kommissar Baumer. Kriminalpolizei Basel-Stadt.«
Der Mann entspannte sich. »Ach so, ich dachte schon …«
»Und wer sind Sie?«, wollte nun Baumer wissen, immer noch auf dem Sofa liegend und den Kopf zur Tür hin gedreht.
»Ich bin Robert Amadio. Das ist die Wohnung meiner Mutter.« Er sprach seinen eigenen Namen mit französischer Intonation aus. Robeer!
»Einen Moment, bitte«, unterbrach Baumer und führte, immer noch ausgestreckt auf dem Sofa liegend, sein Handy wieder ans Ohr.
»Anna?«, sprach er ins Mikrofon.
»Was … was ist los?«, hörte er am anderen Ende der Leitung eine japsende Stimme.
»Ich muss leider unterbrechen, Anna.«
Anna!
Baumer sagte nur Anna. Nicht Schatz. Nicht Liebes. Nicht Liebste. Nur Anna. Nicht Schätzeli.
Anna sagte nichts.
»Es tut mir leid. Es geht nicht anders.« Er schluckte. Dann rang er sich noch zu einem »Bis bald« durch.
Am anderen Ende der Leitung war es still. Baumer wartete einen Moment. Dann noch einen. Dann unterbrach er die Leitung.
»Entschuldigung«, sagte Andreas Baumer zum Sohn von Helen Amadio-Meier und mühte sich in eine gerade Sitzposition. Diesen Mann hatte ihm die Vorsehung hierher geschickt. Einer, den man ohnehin hätte vorladen müssen. Ein Mann, der Auskunft geben könnte. Oder ein möglicher Täter! Mit dem müsste man reden, der hatte sicherlich etwas zu erzählen, würde sich vielleicht in Widersprüche verstricken. Endlich ein Puzzleteil!
»Lassen Sie uns doch in die Küche gehen!«, forderte Baumer seinen »Kunden« auf, sich ein wenig zusammenzusetzen. Und vielleicht, ging es ihm durch den Kopf, könnte man sich ja auch gleich einen Kaffee machen.
Kurze Zeit später saßen sie zusammen in der großzügigen Küche von Helen Amadio-Meier und unterhielten sich.
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