Schweizer Ware
den Kopf ganz leicht zur Seite.
»Gar nicht«, schüttelte Robert Amadio energisch seinen Kopf. »Als ich sagte, es sei normal, dass alte Frauen sterben, hat sie kurz angebunden aufgehängt. Sie kennen das sicher. Mütter können einem solche Sachen ziemlich übel nehmen.« Amadio sprang auf und verwarf verzweifelt die Hände. »Ich war einfach im Stress und hatte keine Zeit für solches Sterbezeugs.«
Baumer schaute auf die Tischplatte vor sich. Sagte der große Mann, der vor ihm in der Küche jetzt auf und ab ging, die Wahrheit? Hatte tatsächlich die Amadio aufgelegt? Oder hatte vielleicht ihr Sohn selbst aufgelegt. Seiner eigenen Mutter? Hatte er vielleicht etwas Dummes gesagt wie, »keine Zeit jetzt für blöde Gerüchte« oder »geh doch zur Polizei mit deinen Geschichten, aber lass mich in Ruhe«? Spielte das überhaupt eine Rolle, wer zuerst das Gespräch abgebrochen hatte? Immerhin hatte er einen weiteren wichtigen Hinweis bekommen. Amadio war im Stress, bei einem wichtigen Kunden. Ging sein Geschäft vielleicht gar nicht so gut, wie es seine edle Kleidung vermuten lassen sollte? Brauchte der Mann dringend Geld?
Es gab noch so viel abzuklären. Wie gerne hätte Baumer jetzt einen Kaffee getrunken. Eine kleine Pause eingelegt am Tag. Ein wenig abschalten und nachdenken.
Robert Amadio drehte sich, fasste den Rand des Tisches mit den Händen. »Glauben Sie, meine Mutter hatte was Wichtiges entdeckt? Ist sie deshalb ermordet worden?«, beugte er sich zu Baumer hin und bat mit ebenso fragendem wie leidendem Gesichtsausdruck den Kommissar um Aufklärung. Er wollte von Baumer eine Antwort und ebenso Absolution, dass nicht er schuld sei am Tod seiner Mutter.
Baumer wich instinktiv zurück, als könne er damit Amadios schuldbewusstem Blick entgehen. Schließlich bemerkte der Kommissar: »Ich weiß nicht, was passiert ist. Das Ganze ist ein Mysterium.«
Robert Amadio rüttelte am Tisch. »Aber meine Mutter ist doch tot, tot, tot.« Dann schrie er: »Jemand hat sie umgebracht!«, und er verschluckte sich fast dabei.
Baumer konnte nicht aufstehen. Er hatte das Bein tief unter dem Küchentisch versenkt. Also sprach er einfach beruhigend auf den erregten Mann ein. »Bitte, Herr Amadio.« Er streckte ihm die geöffnete Hand entgegen. »Beruhigen Sie sich!« Den Buchstaben U im Wort ‚beruhigen’ sprach er mit sonorer Stimme langsam und gedehnt aus.
Der Mann im Anzug drehte sich noch ein paar Mal hin und her, wedelte mit seinen Händen herum, schlug die Fäuste ineinander. Tränen stiegen ihm in die Augen und er schniefte mehrmals. Endlich wurde er sich der Anwesenheit des Kommissars wieder bewusst. Er bekam sich in den Griff, setzte sich erschöpft und schwerfällig, richtete seine Armani-Krawatte. Er schien 20 Jahre gealtert.
Baumer beugte sich zu ihm vor, legte ihm seine Hand auf den Unterarm. Er spürte den Stoff des Jacketts aus feinster Schurwolle – Merino Extra Fine – zart in seinen Fingerspitzen. Baumer fuhr mit der Hand vor und zurück und sprach dabei verständnisvoll zu seinem Gegenüber. »Herr Amadio. Geben Sie sich keine Schuld. Ihre Mutter würde das nicht wollen. Ich verspreche Ihnen, dass wir aufklären werden, was Ihrer Mutter passiert ist.«
»Ja, ist in Ordnung«, nickte er so würdig, wie es einem Directeur gebührt. Dann war er plötzlich wieder Sohn und sagte: »Danke. Danke vielmals.« Er schaute dabei nicht auf. Seinen Unterarm ließ er aber auf dem Tisch liegen und zog ihn lange nicht unter Baumers Hand heraus.
*
Ein Stunde danach war Kommissar Baumer immer noch in der Wohnung von Helen Amadio. Der Sohn der Ermordeten, dem niemand seine Schuldgefühle würde ganz abnehmen können, war gegangen. Er hatte seinen chicen Hermès-Koffer in der Wohnung gelassen und hatte nur ein paar amtliche Dokumente der Toten eingesteckt: Pass, Geburtsurkunde und so. Es gab einige Formalitäten zu erledigen. Auch das Bankbüchlein hatte er gesucht und an sich genommen. Zwar wollte Amadio seinem Gast noch einen Kaffee machen, aber es war keine frische Milch im Haus, und Baumer hatte dankend abgelehnt.
»Gehen Sie nur. Das sollten Sie heute noch erledigen«, hatte der Kommissar zum Alleinerben der Helen Amadio-Meier gesagt. Denn er wusste, dass diese Amtsgänge und die Organisation der Beerdigung den Mann ablenken und zugleich in Betrieb halten würden.
Dann hatte er die Wohnung endlich wieder für sich allein. Dieses Mal legte er sich nicht mehr auf die Couch. Er stand da und entschied sich, so
Weitere Kostenlose Bücher