Schwemmholz
der Ferne klang Motorengeräusch auf. Es kam nicht aus dem Fernseher, und es war auch nicht das hochgedrehte Jaulen der Boliden. Der Lärm kam näher
und bretterte über die Dächer, entfernte sich und kam wieder. Eigentlich musste auch den beiden Verrückten klar sein, dachte Judith, was das bedeutete.
Das Brettern blieb über ihnen stehen. Stirnrunzelnd sah der Chef nach oben. Der Lärm schwoll an, dann ging er wieder zurück und klang schließlich aus wie ein fernes Tackern.
Der Blick des Chefs kehrte zu Judith zurück. Langsam hob er die Hand und steckte sich die Zigarre, die er zwischen Daumen und Mittelfinger hielt, in den Mund. Hingebungsvoll saugte er daran. Glut leuchtete am Ende der Brasil auf. Seine Augen vergewisserten sich, dass Judith der obszöne Charakter dieser Geste nicht entgangen war.
Tamar hatte die Suche nach Freddie auf den Weg gebracht, so gut das an diesem Tag möglich war. Falls irgendein Polizeibeamter zwischen Ulm und Miami dazu Zeit hatte, würde er nach dem Polizeihauptmeister Alfred Krauser und seinem dunkelblauen Ford Mondeo Ausschau halten.
Wenn das Hochwasser vorbei ist, lassen wir ein paar Taucher im Pfuhler Baggersee nachsehen, dachte sie herzlos. Auf Vita Sackville-West und ihre Oberklasse-Lesben hatte sie im Augenblick allerdings keine Lust mehr. Sie zog das Telefon heran und wählte die Privatnummer, die ihr der Experte vom Landeskriminalamt gegeben hatte. Wenn sie schon keinen Sonntag hatte . . .
»Ich denke, ihr steht alle unter Wasser?«, fragte der Mann zur Begrüßung. Tamar erinnerte ihn daran, dass sich der Ulmer Neue Bau auf einer Anhöhe über der Blau erhebt. »In der Gegend haben schon die Staufer eine Burg hingestellt. Es dauert eine Weile, bis wir hier nasse Füße kriegen.« Dann erklärte sie ihm, was sie an Skrowoneks Jacke gefunden hatte. Der Experte hörte schweigend zu.
»Sie sind sicher, dass dieses Kabelstück vom Explosionsort stammt?«
»Absolut«, sagte Tamar und versuchte, die Unsicherheit in ihrer Stimme zu unterdrücken.
»Na ja. Wir müssen sowieso das Anschlussstück finden. Und das Kabel ist ein Stück weit auseinander gerissen, so dass die Drahtenden Spiel haben?«
Tamar betrachtete noch einmal das Kabel, das sie vor sich auf den Schreibtisch gelegt hatte. »Exakt so«, sagte sie schließlich.
Der Experte bat, das Fundstück per Kurier nach Stuttgart in die Taubenheimstraße zu schicken, dem Sitz des Landeskriminalamts. »Übrigens weiß ich jetzt mehr über das Handy, von dem wir die eine Kante gefunden haben«, sagte er noch. »Es ist eines von denen, bei denen man den Ton abstellen kann, wenn ein Anruf aufläuft.«
»Und was bitte tun sie stattdessen?«
»Die vibrieren. Saublöd, was?«
Ellinor Welf hatte vom Konditor am Münsterplatz eine Platte mit Obstkuchen mitgebracht. »Es ist ja Gift für unsere Figur«, sagte sie in der Küche zu ihrer Schwiegertochter, »aber zu einem Sonntagnachmittag gehört einfach ein Kuchen, findest du nicht auch? Georgie wird sich sicher auch freuen.«
Marie-Luise, die durchaus kein Problem mit ihrer Figur hatte, betrachtete den Kuchen mit gequältem Abscheu. Wenn sie der Ansicht gewesen wäre, zu einem Sonntagnachmittag gehöre ein Kuchen, dann hätte sie einen gebacken.
»Das ist ganz reizend von dir, Mama, aber Kuchen ist für Georgie nicht so günstig«, sagte sie und raffte sich auf, ihre Stimme honigmild zu glätten. »Er bekommt sowieso zu viele Süßigkeiten. Sei bitte nicht böse.«
»Ach!«, sagte Ellinor Welf, »ich bin es, die sich entschuldigen muss. Wie gedankenlos ich doch bin! Ich mache mir einfach keine Vorstellungen, welche Einschränkungen ein behindertes Kind mit sich bringt. Weißt du, Jörg hat sich immer so auf den Kuchen am Sonntagnachmittag gefreut, auch wenn er es nicht zugeben wollte, noch als großer Junge . . .«
Das musste so kommen, dachte Marie-Luise. Sie versuchte ein Friedensangebot. »Weißt du was? Den Kuchen gibt es,
wenn Georgie ins Bett gegangen ist. Er hat ja noch nichts gemerkt.« Der Junge spielte nebenan mit ihrem Mann, sie bauten etwas aus Holzklötzen und warfen es wieder um, es klang wie Sonntagnachmittag in einer glücklichen Familie.
»Aber er hat doch gesehen, dass ich etwas mitgebracht habe«, protestierte Ellinor Welf. Dann verwandelte sie gnadenlos die unbedachte Vorlage. »Aber vielleicht ist es ganz richtig so. Das Kind soll sich ja ausschließlich auf dich konzentrieren.«
Die Hölle, dachte Marie-Luise, ist ein Sonntagnachmittag
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