Schwemmholz
Polizei lügt. Durch Mauern kann man nicht sehen.
Eine angespannte Stimme klang durch das Radio. »Woher wissen Sie, dass dies ein einziger Fall ist und nicht mehrere?«
»Das liegt doch auf der Hand«, erwiderte der Reporter.
»Dann sind Sie klüger als ich. Ich werde der Direktion vorschlagen, dass Sie die Ermittlungen übernehmen.«
»Ein Späßchen«, sagte der Reporter. »Ich glaube nicht, dass unsere Hörer es lustig finden. Was können Sie uns im Ernst über den Stand der Ermittlungen sagen?«
»Im Ernst, bitte sehr«, antwortete Berndorf. »Wir sind von der jüngsten Entwicklung ebenso überrascht worden wie Sie. Es ist richtig, dass wir eine ganze Reihe unserer Arbeitshypothesen überprüfen müssen.«
Der Reporter wollte wissen, ob es Verdächtige gebe. »Wie es heißt, wird zur Zeit der Bauunternehmer vernommen, dem das Haus gehört, das bei der Explosion zerstört wurde. Merkwürdigerweise
baut er auch den Appartementblock am Donauufer, in dessen Rohbau die Leiche gefunden wurde.«
»Zu Gerüchten äußere ich mich nicht.« Berndorfs Stimme drehte wieder ins Eisige. »Wenn es zutreffen sollte, dass wir jemanden vernehmen, würden Sie dazu kein Wort von mir hören. Sagen kann ich Ihnen aber, dass wir nach einer Frau suchen, auf deren Aussage wir dringend angewiesen sind. Es handelt sich um die 34-jährige Judith Norden . . .«
Judith Norden schloss die Augen. Berndorf gab ihre Beschreibung durch. »Frau Norden ist knapp 1,70 Meter groß, schlank, hat dunkles, kurz geschnittenes Haar. Ihre rechte Wange ist als Folge eines Schlags verfärbt.«
Sie stellte das Radio ab. Sie überlegte, ob sie zur Polizei gehen sollte und erklären, sie hätte Rodek in Notwehr getötet. So war es ja auch gewesen. Er hatte sie vergewaltigt, und sie hatte ihn dabei getötet. Kein Gericht durfte sie deshalb verurteilen.
Dann fiel ihr wieder ein, dass die Polizei Jörg bereits in der Mangel hatte. Das bedeutete, dass er seine Version zuerst loswerden konnte. Sie konnte es sich an einer Hand abzählen, was er der Polizei vorlügen würde. Rodek und sie, die schlimme, die intrigante Judith Norden, hätten alles geplant und inszeniert. Vielleicht würde er auch behaupten, sie hätten ihn erpresst. Eigentlich brauchte er nur die Wahrheit zu sagen mit der einzigen Ausnahme, dass alles in ihrem oder in Rodeks Kopf entstanden sei. Er selbst hatte ja keine Hand gerührt, kein einziges Mal. Ein Unternehmer und Sohn aus gutem Hause hat das nicht nötig. Er hat seine Geschöpfe dafür.
Sie stand auf, zog ihre Jacke an und vergewisserte sich, dass sie nichts hatte liegen lassen. Hier konnte sie nicht bleiben. Die Heimleiterin war von Anfang an misstrauisch gewesen. Falls Sie die Sendung gehört hatte, hing sie vermutlich schon am Telefon, um die Polizei zu verständigen.
Sie ging die Treppe hinunter. Aus der Gemeinschaftsküche hörte sie die Leiterin. Sie verhandelte etwas mit einer anderen Frau, schwesterlich klang es nicht.
Solveig war 18 Jahre alt, eine ernsthafte junge Frau, die sich auf das Abitur vorbereitete. Sie wollte den Numerus clausus für das Medizinstudium schaffen und später einmal Kinderärztin werden. Ein- oder zweimal in der Woche half sie der Familie Welf aus und betreute Georgie. Sie war stolz darauf, dass die Mutter ihr das Kind anvertraute.
Am Nachmittag hatte Marie-Luise Welf angerufen. Sie müsse kurz in die Stadt, ob Solveig für ein oder zwei Stunden herüberkommen könne? Solveigs Mutter hatte sich noch einzumischen versucht; es wäre im Augenblick wohl besser, meinte sie, ein wenig Distanz zu den Welfs zu halten. Aber Solveig ließ sich von ihrer Mutter in solchen Dingen nichts mehr sagen. Sie hatte das Arbeitsheft Biologie mitgenommen und war über die Straße zum Welf’schen Haus gegangen.
Marie-Luise Welf hatte ihr kurz die Hand gedrückt und war dann mit ihrem Smart in die Stadt gefahren. Sie hatte eine voll gepackte Vuitton-Tasche bei sich. Keiner der beiden Frauen war der schwarze Wagen aufgefallen, der einige Meter oberhalb des Welf’schen Hauses geparkt war.
Georgie war quengelig und mochte nichts spielen. Irgendetwas war anders als sonst, und er spürte es. Vermutlich hatte es mit dem Ärger zu tun, dachte Solveig, den der Architekt Welf hatte. Solveigs Eltern hatten beim Frühstück darüber gesprochen. Vielleicht war Welf sogar ein Mörder. Oder jedenfalls jemand, der einen anderen Menschen hatte umbringen lassen. Solveig würde es nicht wundern. Sie hielt Welf für einen
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