Schwemmholz
gehörten.
Sie ging in das Wohnzimmer, von dessen Fenstern aus man einen weiten Ausblick auf den See hatte. Auch hier zog sie die Jalousie einige Zentimeter hoch und spähte hinaus.
»Was machst du?«, wollte Georgie wissen. Er war ihr gefolgt und stand neben ihr.
Sie bückte sich und hob ihn hoch. In der Abenddämmerung hatte sich das grüne Wellengekräusel schwarzblau verfärbt, mit kleinen weißen tückischen Gischtkronen. Am fernen Schweizer Ufer blinkte orange die Sturmwarnung. Das Wasser in dem kleinen Privathafen, den die Welfs mit den Nachbarn aus der Villa teilten, schlug Wellen bis zu dem an Land gezogenen und vertäuten Segelboot. Auf dem See sah Judith nur noch ein Boot. Es lag, groß und graublau wie alle Boote der Wasserschutzpolizei, weit draußen.
Judith setzte Georgie wieder ab und ließ die Jalousie herunter. Sie ging in die Küche zurück und überlegte, ob sie dem Jungen einen Pfefferminztee kochen solle. Wenn sie genug Zucker dazutat, mochte er ihn vielleicht. Sie setzte Wasser auf. Dann sah sie sich nach dem Jungen um. Er war verschwunden.
Nicht auch das noch, dachte sie. Sie schaute im Kinderzimmer nach, das auf der anderen Seite des Flurs unmittelbar gegenüber der Küche lag. Georgie war auf sein Bett geklettert und in seinen Kleidern eingeschlafen. Sie deckte ihn zu und schloss das Seitengitter des Betts.
Die Tür zum Kinderzimmer ließ sie offen. Sie zog die Gummistiefel an und ging in das Erdgeschoss. Einige Fingerbreit hoch stand Wasser auf dem Boden. Über den Flur erreichte sie die Werkstatt, deren Wände noch immer mit Segelzeug voll
gehängt waren. Sie ging zur Werkbank und zog eine der Schubladen voller Kartons heraus. Judith griff dahinter und holte die Beretta hervor, die sie Rodek in einem Straßburger Waffengeschäft besorgt hatte. Sie überprüfte das Magazin. Es war voll. Dann ging sie zu dem Schlauchboot, das auf einem Fahrgestell an der Wand gegenüber der Werkbank lag. Es stammte aus Bundeswehrbeständen und hatte einen Zweitakt-Außenbordmotor. Rodek hatte es besorgt, weil es ihn ärgerte, dass sie besser mit dem Segelboot umgehen konnte als er. Mit einer Druckluftflasche pumpte sie das Schlauchboot auf und füllte aus einem Kanister den Tank des Außenborders nach. Die Werkstatt hatte ein Tor zur Slipanlage. Wenn es so weit war, brauchte sie das Schlauchboot nur auf den Rollen herauszuziehen. Das Wasser draußen war hoch genug. Bei der Ausfahrt allerdings würde sie aufpassen müssen. Die Mauern der Mole waren überflutet.
Das kleine Büro, das zum Dezernat »Organisierte Kriminalität« gehörte, war nur von einer Schreibtischlampe und dem bläulichen Schein eines Computers ausgeleuchtet. Der Kriminalbeamte Schmoltze war ein jüngerer, etwas dicklicher Mann mit schütterem, gleichwohl lockigem Haar, das er sich mit einem Anflug von Verwegenheit in die Stirn gekämmt hatte. Er hatte den demolierten Laptop sorgfältig auseinandergebaut und die ihm tauglich erscheinenden Teile an seinen Computer angeschlossen. Dann gab er eine Reihe von Befehlen ein und lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück.
»Jetzt werden wir ja sehen«, sagte er zu Kuttler.
Auf dem Bildschirm des Computers tauchte eine Reihe von Zahlen und Befehlen auf. Schmoltze drückte eine Funktionstaste. Die Geräte arbeiteten. Plötzlich erschien das Logo eines US-Unternehmens auf dem Bildschirm, dann der Vermerk: »Dieses System wurde lizensiert für Hartmut Sander«.
»Glückwunsch«, sagte Kuttler.
»Danke«, sagte Schmoltze. »Nie verzagen. Schmoltze fragen. Was willst du eigentlich finden?«
»Briefe«, sagte Kuttler. »Aufzeichnungen. Privates eben. Alles, was zum Beispiel mit einem Jörg Welf zu tun hat. Vielleicht kannst du den Namen als Suchbegriff nehmen.«
»Suchen wir doch einfach einmal unter ›Daten/privat‹«, sagte Schmoltze und gab einen Befehl ein. Auf dem Bildschirm erschien ein Verzeichnis von Dateien. Kuttler beugte sich über Schmoltzes Schulter und sah das Verzeichnis durch. Der Name Welf tauchte nirgends auf.
Judith hatte sich vergewissert, dass sie den richtigen Schlüssel zum Werkstatttor eingesteckt hatte. Die Pistole hatte sie in der rechten Jackentasche verstaut. Sie löschte das Licht in der Werkstatt und wollte zurück zur Treppe und nach oben in die Wohnung gehen.
Draußen, auf der überfluteten Einfahrt, patschten schwere Schritte. Jemand näherte sich der Eingangstür des Bootshauses. Judith holte die Beretta aus ihrer Jacke und entsicherte sie.
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