Schwemmholz
Auf Zehenspitzen, die Pistole in der Hand, ging sie zur Tür.
Der Mann hatte den Eingang erreicht. Die Klingel hallte durch das Treppenhaus. Judith rührte sich nicht. Von Georgie war nichts zu hören.
Der Mann drückte erneut auf den Klingelknopf. Der Idiot weckt mir noch das Kind, dachte Judith.
»Frau Norden, ich bin Kommissar Berndorf von der Ulmer Polizei«, sagte eine Stimme, die laut genug war, um durch die Tür zu dringen. »Ich höre Sie, und Sie hören mich. Ich möchte mit Ihnen reden. Ich bin nicht bewaffnet, und Sie wissen, dass ich behindert bin. Es droht Ihnen also keinerlei Gefahr.«
Judith beugte sich zu dem Spion an der Tür und schaute durch. Sie erkannte den Mann. Er trug einen leichten grauen Anzug und stützte sich auf einen Stock.
»Mama«, weinte Georgie. Nun war er doch wieder wach geworden. Du kannst hier nicht länger herumstehen, dachte Judith. Die anderen Polizisten könnten versuchen, von außen in die Wohnräume einzudringen.
»Ziehen Sie Ihre Jacke aus und werfen Sie den Stock weg«,
befahl sie durch die geschlossene Tür. Berndorf hängte seinen Krückstock an das Geländer, das am Aufgang zur Tür angebracht war. Dann trat er einen Schritt zurück, zog sein Jackett aus und legte es ebenfalls über das Geländer. Zum Schluss drehte er sich einmal mit erhobenen Händen um sich selbst, wie um zu zeigen, dass er nirgends eine Waffe bei sich hatte. In der Brusttasche steckte sein Handy.
»Werfen Sie den Stock weg.« Er gehorchte.
Judith öffnete mit der linken Hand die Tür und trat zur Seite. In der rechten Hand hielt sie die Pistole. Berndorf trat ein, Judith stieß die Tür hinter ihm zu, die Waffe auf ihn gerichtet. »Das brauchen Sie nicht«, sagte Berndorf. »Ich will nur mit Ihnen reden, und dann gehe ich wieder.«
»Gehen Sie nach oben«, antwortete Judith. »Gehen Sie mir voran. Wenn Sie einen Trick versuchen, schieße ich Ihnen das Bein weg, das noch nicht verkrüppelt ist.«
Sie folgte Berndorf die Treppe hinauf und dirigierte ihn in die Küche. Georgie mährte in seinem Gitterbett. Berndorf fragte, ob er sich an den Küchentisch setzen dürfe. Judith wies ihm einen Platz an. Dann verlangte sie sein Handy. Er legte es auf den Tisch und schob es ihr zu. Sie steckte es ein.
»Bleiben Sie hier sitzen. Ich muss nach dem Kind schauen. Aber ich werde Sie im Auge behalten.«
Sie ging zum Kinderzimmer, ließ aber die Küchentür offen. Noch immer hielt sie den Pistole in der Hand. Georgie war halb am Weinen und halb am Einschlafen.
»Siehst du«, sagte Judith leise und tröstend, »dein Papa und deine Mama sind noch nicht da. Aber sie kommen bald. Du musst nur einschlafen, dann sind sie ganz schnell da.«
Sie lehnte die Tür des Kinderzimmers an und ging in die Küche zurück.
»Wir können warten, bis er eingeschlafen ist«, sagte Berndorf.
»Womit warten?«, antwortete Judith. Sie sah ihn abschätzig an. Dann setzte sie sich ihm gegenüber an den Küchentisch. Die Pistole legte sie in Griffweite vor sich auf den Tisch.
Berndorf schwieg. Von draußen hörte man das Rauschen des Sees und den Wind, der auf die Jalousien drückte.
»Sie wollten doch mit mir reden?«
»Entschuldigung«, sagte Berndorf. »Ich habe gerade überlegt, ob ich Sie um eine Tasse Tee bitten soll. Sie hatten mir versprochen, dass ich beim nächsten Besuch wieder eine bekomme.«
»Wir spielen hier nicht das Lied vom Tod, und Sie sind nicht gekommen, um Tee zu trinken. Also?«
»Sie wissen, dass wir Stefan Rodek gefunden haben?«
»Was stellen Sie solche Fragen?«, antwortete Judith müde. »Sie haben nicht Rodek gefunden, sondern seine Leiche. Es kam in den Nachrichten.«
»Was bedeutet Ihnen sein Tod?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nächste Frage.« Sie holte sich eine der Zigaretten aus der Packung, die auf dem Tisch lag, und zündete sie sich an. Ihre Hand zitterte nicht. Vielleicht ist es das, was sie mir zeigen will, dachte Berndorf.
»Haben Sie die aus Frankreich?«, fragte er. »Filterlose Gauloises bekommt man hier gar nicht mehr.«
»Ein entwöhnter Raucher, wie?« Judith blies ihm spöttisch einen Rauchkringel über den Tisch entgegen. Sie hielt die Zigarette in der linken Hand. Die rechte lag auf dem Tisch, neben der Pistole.
»Jein«, antwortete Berndorf. »Mir sind Ihre Zigaretten schon aufgefallen, als wir das erste Mal miteinander gesprochen haben. Und sie sind mir in Erinnerung geblieben, weil ich nach jemand suche, der in Frankreich gewesen ist. Und der eine Postkarte in
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