Schwemmholz
Straßburg aufgegeben hat. Eine Karte, die Rodek geschrieben hat.«
Judith ließ die Zigarette für einen Augenblick sinken. »Sehr aufmerksam. Und? Was geht mich das alles an?«
»Das müssen Sie wissen. Allerdings glaube ich, dass Sie mit Rodek doch einiges zu tun gehabt haben.« Er versuchte, ihr in die Augen zu sehen. Unbeeindruckt gab sie den Blick zurück. Aber ihr Gesicht sah angespannt aus und blass.
»Welf behauptet übrigens«, fuhr er fort, »dass Sie und Rodek versucht hätten, ihn zu erpressen. Sein Anwalt wird versuchen, ihn damit herauszupauken. Es ist ein erstklassiger Anwalt, die Familie kann es sich ja leisten.«
»So, kann sie das?« Judith drückte ihre Zigarette mit einer ärgerlichen Bewegung aus. »Soll ich Ihnen etwas sagen? Jörg war noch vor einigen Wochen so gut wie pleite. Am Ende. Fertig. Dass er sich nicht halten würde, konnte letztes Jahr schon jeder wissen, der ein paar Zahlen addiert hat. Die Sporthalle sollte das retten.«
»Seinem Auftreten hat man es nicht angemerkt.«
»Fassade«, antwortete Judith, und plötzlich schien sich die Anspannung in ihrem Gesicht zu lösen. »Der ganze Mann ist so wie seine Architektur. Effekt, Blendwerk. Erker, Glas, Stahl, Marmor. Gefällige Draufsicht. Architektur, in der sich die Dame im Pelzmantel spiegeln kann. Postmoderne Zuckerbäckerei. Schaut man hinter die Fassade, ist nichts. Keine Idee. Kein Mumm. Kein Selbstvertrauen. Hätte er es gehabt, dann wäre er nicht nach Ulm zurückgekehrt, in den wärmenden Dunstkreis der Beziehungen, die ihm seine Mutter knüpft. Und, vor allem, er hätte nicht die anämische Tochter eines kleinen Bauunternehmers geheiratet, um auf diese Weise ins Geschäft zu kommen.«
Sie schüttelte die nächste Zigarette aus der Schachtel, behielt sie aber unangezündet in der Hand. »Natürlich ist auch diese Rechnung nicht aufgegangen. Die Karten in dieser Stadt sind verteilt, und jedem ist sein Stück am Kuchen zugewiesen. Zuerst einmal kommt der Herr Gföllner und holt sich seinen Anteil. Und von dem, was dann noch übrig bleibt, kriegt vielleicht auch das kleine Baugeschäft am Karlsplatz etwas ab. Nur — der eingeheiratete Chef von Hauns Klitsche kriegt keinen größeren Anteil, nur weil er Architekt ist und sich bei den Rotariern herumdrückt und seine Mutter den Vorsitz und das große Wort beim Literarisch-musikalischen Damentreff führt. Der eingeheiratete Chef kann überhaupt strampeln, wie er will, an den Spielregeln ändert er doch nichts. Und die erste
und wichtigste Spielregel bestimmt, dass denen gegeben wird, die schon haben.«
»Und Sie? Warum haben Sie sich das angetan?«
Judith zündete nun doch die Zigarette an. »Haben Sie eine Vorstellung, welche Chancen eine junge Architektin hat, ohne Ressourcen, Beziehungen und ohne das Glück, bei einem größeren Wettbewerb beachtet zu werden?« Sie inhalierte und betrachtete den Kommissar beim Ausatmen mit einem Blick, in dem Berndorf so etwas wie Verachtung spürte. »Sie sind Beamter. Sie sind abgesichert. Sie wissen nicht, was es bedeutet, wenn man um einen Job kämpfen muss.«
»Erzählen Sie mir trotzdem, wie Sie nach Ulm gekommen sind? Wenn Sie mögen.«
Judith zuckte mit den Achseln. »Ich kannte Jörg vom Studium. Später, als ich gerade dabei war, ein paar Scherben zusammenzukehren, privat und beruflich, kam ein Angebot von ihm. Ich hab mir eingebildet, wir könnten uns ganz gut ergänzen. Ich würde die Ideen einbringen, und er würde sie verkaufen. Dann brach die Konjunktur ein, und eigentlich war alles vorbei. Bis eines Tages Rodek auf der Bildfläche erschien.«
Die Anspannung kehrte in ihr Gesicht zurück. Sie klopfte die Asche ab. »Es war hier am See, als ich Rodek zum ersten Mal gesehen habe. Ich war mit Welf für zwei Tage hierher gefahren — seiner Frau hatte er erzählt, er sei auf einer Internationalen Architektentagung in Lindau –, und während der Fahrt sagte er mir plötzlich, ich solle nicht ärgerlich sein, aber ein alter Freund von ihm werde auch kommen.«
Sie unterbrach sich und stierte auf den Tisch.
»Sag mal«, fragte Schmoltze, »kannst du das zeitlich eingrenzen, was du suchst?«
Kuttler überlegte. »Dieser Hartmut Sander wird seit gut zwei Wochen vermisst. Wenn sein Verschwinden etwas mit den Briefen oder Notizen zu tun hat, die da drin sein könnten, dann werden die nicht viel älter sein.« Logisch ist das eigentlich nicht, dachte er. Das Material, das ein Erpresser verwendet,
ist selten aktuell,
Weitere Kostenlose Bücher