Schwemmholz
über dem Handwaschbecken lag nur eine Seifenschale, und auch im Spiegelschrank darüber fanden sie weder Zahnbürste noch Rasierzeug.
»Das alles sieht aus, als ob er wirklich verreist sei«, fasste Tamar zusammen. »Aber seine Kolleginnen können sich das überhaupt nicht vorstellen.«
»Ich mir auch nicht«, meinte Berndorf. Tamar schaute ihn fragend an.
»Seit wann reisen die Leute mit den Sicherungsdisketten ihrer Computer durch die Welt?«, wollte Berndorf wissen. »Und das andere ist das Geschirr. Der Mensch, dem diese Wohnung gehört, verreist nicht, ohne das Frühstücksgeschirr abgespült und aufgeräumt zu haben.«
Tamar sah auf ihre Uhr. »Tut mir Leid, Chef, ich bin Ihnen heute keine große Hilfe«, meinte sie und reichte ihm den Schlüssel zu Sanders Wohnung. »Geben Sie ihn nachher in der Hausverwaltung nebenan ab. Ich muss zurück in den Neuen Bau. Um drei erwarte ich Herrn Welf.«
»Ich weiß«, sagte Berndorf. »Lassen Sie ihn nicht allzu deutlich merken, dass Sie bei dieser Gasexplosion nicht an einen Unfall und auch nicht an einen Selbstmord glauben.«
Tamar betrachtete ihn überrascht. »Woher wissen Sie?«
»Als Sie heute Morgen mit Welf gesprochen haben, hat man es in Ihrem Gesicht lesen können wie in einer Anklageschrift.«
Tamar verließ die Wohnung, Berndorf schloss die Tür hinter ihr. In der Küche hatte er eine kleine grüne Gießkanne gesehen.
Er füllte sie und goss als Erstes den vor sich hin kümmernden Gummibaum, dann – sehr viel sparsamer – die Kakteen. Im Arbeitszimmer setzte er sich in den Drehstuhl und sah noch einmal die Schubladen des Schreibtischs durch. In der obersten fand er die Papiertüte eines Fotogeschäfts mit einem entwickelten Film und den Abzügen. Es waren – wie die Fotografien an den Wänden – Schwarzweißaufnahmen mit Alltagsszenen aus der Stadt: überquellende Abfalleimer, Plakatwände, deren oberste Schicht sich im Regen aufzulösen begann, ein Graffiti-Spruch auf der nackten Betonmauer eines Parkhauses: love is death.
Berndorf sah sich um. Auch im Arbeitszimmer hingen Vergrößerungen solcher Fotos, auf dem Regal neben ihm lag eine Nikon. Er nahm sie aus ihrem Lederetui und untersuchte sie. Es war kein Film eingelegt.
Komisch, dachte er. Der passionierte Fotograf, der seinen Laptop samt Disketten mit sich nimmt, lässt seine Kamera zu Hause. Aber vermutlich hat er noch andere Apparate. Berndorf wandte sich dem Regal zu. Im untersten Fach standen mehrere Leitzordner. Er zog einen hervor.
Der Ordner enthielt die Gehaltsabrechnungen, Arztrechnungen und die Korrespondenz mit der Besoldungsstelle des Landes. Außerdem waren Sanders Kontoauszüge abgeheftet. Sein Girokonto war mit einigen tausend Mark im Plus. Soweit Berndorf sehen konnte, hatte Sander außer der Umlage für seine Eigentumswohnung, den Kosten für seinen Renault und für einen Solo-Urlaub in Italien, keine besonderen Ausgaben. Vor zwei Jahren hatte er zusätzlich zu seinen sonstigen Ausgaben 2000 Mark abgehoben. Zwei Blätter weiter fand sich eine
Quittung über knapp den gleichen Betrag, ausgestellt von einem Eheanbahnungsinstitut Aurora.
Das Sportstudio lag in der Weststadt, in der Nähe des alten Röhrenwerks. Tamar parkte ihren Wagen unter regennassen Bäumen. Vor ihr erstreckte sich ein altersgrauer Schuppen. Eine Eisentreppe führte zum Eingang hoch. Tamar stieß die Türe auf und kam in einen Gang, der mit Fotos martialischer Muskelmänner voll gehängt war. Die Muskelmänner waren dabei, einander mit den Füßen in die Nieren zu treten oder mit bloßen Händen einen Haufen Ziegel durchzuschlagen. Deckenlicht erhellte einen großen Raum mit Trimmgeräten. Ein schweißglänzender Jungmann arbeitete an einem Sandsack, ein zweiter stemmte Eisen. Weiter hinten war ein Boxring aufgebaut. Daneben stand ein erleuchteter Verschlag.
Tamar ging darauf zu und öffnete die Tür. Vor einem mit Papier, Schachteln, Dosen und einem Laptop voll gestellten Tisch saß ein schlaksiger, hagerer Mann. Er hatte misstrauische Augen und im Gesicht eine lange, rot gezackte Narbe, die von der einen Schläfe bis zum Kinn herablief. Fragend schaute er zu Tamar hoch. Sie stellte sich vor und griff nach ihrem Dienstausweis. Der Mann winkte ab.
»Dass Sie vom Neuen Bau kommen, seh ich auch so.« Er grinste missvergnügt. »In einem früheren Leben war ich mal bei Ihrer Firma. Aber setzen Sie sich doch.« Er wies auf einen Hocker.
Tamar nahm den Hocker und setzte sich. Auch hier war die
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