Schwere Schuld / Der Wächter meiner Schwester - Zwei neue Romane in einem Band
Meinungsäußerung zu opfern.« Sie streichelte die Schulter ihrer Tochter. Sheralyn ergriff die Hand ihrer Mutter. Dr. Elaine drückte die Finger ihrer Tochter.
»Meine Tochter - unsere Tochter«, sagte Dr. Andrew, »ist eine fabelhafte junge Frau.«
»Das ist offensichtlich«, erwiderte Baker. »Wir würden gern mit ihr allein sprechen.«
»Ich weiß nicht«, sagte Dr. Andrew.
»Ich weiß auch nicht«, sagte Dr. Elaine.
»Wisst«, sagte Sheralyn. »Bitte.« Sie bedachte ihre Eltern mit einem kurzen, angespannten Lächeln.
Die Dres. Carlson sahen einander an. »Nun gut«, sagte Dr. Andrew. Er und seine Frau verließen das schlichte, weiße, moderne Wohnzimmer ihres schlichten, weißen, modernen Hauses, als machten sie sich zu einem Treck durch Sibirien auf. Warfen einen Blick zurück und bekamen dafür Sheralyns fröhliches Winken.
Als sie gegangen waren, wurde das Mädchen ernst. »Endlich! Ich hab lange auf die Gelegenheit gewartet, zum Ausdruck zu bringen, was mich seit einiger Zeit beschäftigt. Ich mache mir sehr große Sorgen wegen Tristan.«
»Warum?«, fragte Baker.
»Weil er deprimiert ist. Nicht im klinischen Sinne derzeit, aber so gut wie.«
»Deprimiert seines Vaters wegen?«
»Sein Vater«, sagte sie. Blinzelte. »Ja, deshalb natürlich auch.«
»Weshalb noch?«
»Die üblichen nachpubertären Probleme.« Sheralyn verschränkte ihre Finger ineinander. »Das Leben.«
»Das klingt so, als wären Sie an Psychologie interessiert«, sagte Lamar.
Sheralyn nickte. »Die entscheidenden Fragen drehen sich immer um das menschliche Verhalten.«
»Und Tristans Verhalten macht Ihnen Sorgen.«
»Es geht eher um den Mangel an Verhalten«, erklärte sie. »Er ist deprimiert.«
»Er macht eine schwere Zeit durch.«
»Tristan ist nicht der, der er zu sein scheint«, sagte sie, als hätte sie nicht zugehört. Sie besaß das vornehme Aussehen einer Schönheitskönigin, machte aber auf Randgruppe. Geblümtes Minikleid, Springerstiefel, Hennamuster am Handgelenk, vier Piercings in einem Ohr, drei in dem andern. Es gab einen winzig kleinen Punkt über ihrem rechten Nasenloch, wo mal ein Stecker gesessen hatte.
»Was meinen Sie damit?«
»Auf den ersten Blick«, sagte sie, »wirkt Tristan wie der Supermacho vom Planeten Testosteron. Aber er ist außergewöhnlich sensibel.«
»Außergewöhnlich«, sagte Baker.
»Wir haben alle unsere Masken«, bemerkte der Teenager. »Ein weniger ehrlicher Mensch hätte vielleicht keine Schwierigkeiten, seine anzulegen. Tristans Seele ist ehrlich. Er leidet.«
Keiner der beiden Detectives war wirklich sicher, was sie
meinte. »Macht er gerade irgendeine Identitätskrise durch?«, fragte Lamar.
Sie schaute ihn an, als brauche er Nachhilfeunterricht. »Klar, warum nicht?«
»Will sein Leben ändern«, sagte Baker.
Schweigen.
»Wir wissen, dass er sich an der Brown hat beurlauben lassen«, sagte Lamar. »Wo ist er?«
»Zu Hause.«
»Wohnt er bei seiner Mutter?«
»Nur in körperlichem Sinn.«
»Kommen sie nicht gut miteinander aus?«
»Tristans Zuhause ist kein Ort, an dem ein junger Mensch gedeihen kann.«
»Konflikt mit seiner Mutter?«
»Oh nein«, antwortete Sheralyn Carlson. »Konflikt setzt Anteilnahme voraus.«
»Mrs. Poulson nimmt keinen Anteil?«
»Oh doch, das tut sie schon.« Das Mädchen runzelte die Stirn. »An sich selber. Sie hat so eine nette Beziehung zu sich.«
»Sie können sie nicht leiden«, sagte Baker.
»Ich denke nicht so oft an sie, dass ich sie nicht leiden könnte.« Einen Moment später: »Sie repräsentiert vieles, was ich abstoßend finde.«
»Wieso?«
»Haben Sie sie kennengelernt?«
»Natürlich.«
»Und trotzdem fragen Sie.« Sheralyn Carlson gab sich Mühe, einen amüsierten Eindruck zu machen.
»Worin besteht ihr Problem, abgesehen davon, dass sie eine distanzierte Mutter ist?«, fragte Baker.
Das Mädchen ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Verdrehte diese Finger. Spielte mit ihren Haaren und mit dem Saum
ihres Kleides. »Ich liebe Tristan. Nicht im sexuellen Sinn, dieser Funke existiert nicht mehr zwischen uns.« Sie schlug die Beine übereinander. »Wörter werden dem Phänomen nicht gerecht, aber falls ich es auf den Punkt bringen müsste, würde ich sagen: brüderliche Liebe. Aber betrachten Sie das nicht als freudianischen Fingerzeig. Tristan und ich sind ziemlich stolz, dass wir es geschafft haben, unsere Beziehung aus dem Reich des Körperlichen in eine idealistische Freundschaft zu überführen.« Sie machte
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