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Schwerter und Rosen

Schwerter und Rosen

Titel: Schwerter und Rosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Stolzenburg
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Bishopsgate – genähert, das mehr einer Festung als einem Tor glich. Als sie bis auf Sichtweite herangekommen waren, wäre Harold bei dem Anblick, der sich ihnen bot, vor Entsetzen beinahe aus dem Sattel geglitten. Auf den Zinnen des Tores staken Dutzende von abgeschlagenen Köpfen, über denen laut krächzend Aasfresser kreisten. »Verbrecher«, hatte Guy gemurmelt und ebenfalls angeekelt den Blick abgewandt, um abzusitzen und sich in dem winzigen Wachhäuschen um die Formalitäten zu kümmern. Wenige Minuten später war er wieder aufgetaucht, und die beiden Reisenden waren in das geschäftige Getümmel Londons eingetaucht. Für Harold, der noch niemals zuvor eine größere Stadt betreten hatte, waren die Eindrücke, die völlig unvermittelt auf ihn einstürmten, so überwältigend, dass ihm um ein Haar der Mund offen stehen geblieben wäre. Überall gingen, liefen, rannten oder ritten Menschen, die so dicht gedrängt waren, dass die beiden Reiter mit ihren Pferden kaum vorankamen. Peitschen knallten, als Bauern die Ackergäule vor ihren ärmlichen Karren antrieben, um noch vor Schließung des Tores die Metropole verlassen zu können. Und hinter ihnen drängten diejenigen in die Stadt, die die Nacht nicht vor den Mauern zubringen wollten.
    Wie süß erschienen Harold dagegen bei der Ankunft im Tower die Ruhe und die Abwesenheit des Gestankes, der über dem Gerberviertel gehangen hatte wie ein schwerer Vorhang aus stehender Luft. Im Gegensatz zu dem Gewimmel schmutziger Kinder, reicher Kaufherren, barbusiger Dirnen und redlicher Bürger wirkte der weitläufige Hof der enormen weißen Festung auf ihn wie ein Paradies. Niemand zerrte mit verdreckten Händen am Saum seines Umhanges oder an seinem Steigbügel. Und die Damen, die er weit entfernt im Schatten einer ausladenden Linde erspähte, schienen weder zahnlos wie die hässlichen Vetteln, deren missgestaltete Klauen sich den Reitern bettelnd entgegengestreckt hatten, noch unzüchtig wie die größtenteils viel zu jungen Huren. Erleichtert stieß der Knabe einen Seufzer aus, als ihnen ein schlicht gekleideter Stallknecht die Pferde abnahm und mit ihnen in Richtung Stallungen davonmarschierte. »Komm«, forderte Guy ihn auf und ging voraus auf die Treppe zu, die ins Innere des Bollwerkes führte. Die Kühle, die sie umfing, kaum dass sie die Halle des Towers betreten hatten, war so angenehm, dass Harold einen Augenblick lang die missliche Lage vergaß, in der er sich befand. Staunend blickte er sich um. Der Holzboden wirkte frisch poliert, und die prächtigen Wandbehänge, welche die Eingangshalle zierten, zeugten von einer Jahrhunderte alten Handwerkskunst, die den Knaben mit Ehrfurcht erfüllte. Stilisierte Krönungs- und Sterbeszenen wetteiferten mit farbenfrohen Jagdszenen und der Darstellung exotischer Orte.
    »Warte hier!«, befahl Guy. »Ich werde ausfindig machen, wo du unterkommen kannst, bis der König einen Dienstherrn für dich bestimmt.« »Aber«, hub Harold an, doch Guy unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Geste. »Glaube mir, es ist gleichgültig, an wen der Brief gerichtet ist«, beruhigte ihn der Ritter. »Es reicht, dass dein Vater ein getreuer Vasall der Krone ist.« Der König schert sich sowieso nicht um Knappen, setzte er in Gedanken hinzu, bevor er die breite Freitreppe hinaufeilte – jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend. Verwirrt blickte Harold seinem breiten Rücken nach, bis dieser hinter einem dicken Eichenbalken verschwand. Kurz darauf wurde er von den Frauen abgelenkt, die von ihrem Ausflug in den kleinen Garten der Festung zurückkehrten. Heiteres Geschnatter begleitete die bunte Gruppe, in deren Mitte eine erhaben wirkende Dame sich auf den Arm eines bildschönen jungen Mädchens stützte, dessen schlanke Gestalt von einem haselnussfarbenen Bliaud unterstrichen wurde. Die dunkelblonden Locken hatte sie unter einem silbernen Schapel – einem reich verzierten Stirnreif – zusammengenommen, von dem ein durchsichtiger, taubenblauer Schleier bis auf ihre Schultern fiel. Ihr feines Profil fesselte die Aufmerksamkeit des Knaben, und als sie ihm für den Bruchteil eines Momentes den Blick zuwandte, schienen ihre Augen zu leuchten. Viel zu schnell verschwanden die Frauen in einem der vielen Gänge der Festung. Und nachdem Harold sich von dem Gefühl der freudigen Überraschung erholt hatte, keimte die Hoffnung in ihm auf, schon bald die Bekanntschaft des schönen Mädchens machen zu können. Vielleicht war doch nicht alles verloren,

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