Schwester der Finsternis - 11
bereits im Begriff, sich vorzubeugen. Wenn er jetzt, in diesem Augenblick, widersprach, wäre ihre Sache unrettbar verloren. Nicci verpasste ihm einen kräftigen Tritt mit der Seite ihres Fußes, in der Hoffnung, ihn zu überzeugen, den Mund zu halten und das Reden ihr zu überlassen, bevor alles zu spät war. Gesenkten Hauptes trat Nicci einen Schritt zurück, womit sie den Schmied zwang, beiseite zu treten, ohne dass es allzu offensichtlich aussah.
»Ihr seid weise, Protektor Muksin. Wir können Wertvolles von Euch lernen. Bitte verzeiht die unziemlichen Worte einer bedauernswerten Gemahlin. Ich bin eine einfache Frau, erfüllt von Demut und verwirrt in Gegenwart eines Vertreters der Bruderschaft des Ordens.«
Verdutzt enthielt sich der Protektor einer Antwort. Mehr als ein Jahrhundert lang hatte Nicci sich derartiger Formulierungen bedient und war sich ihrer Nützlichkeit bewusst. Sie hatte diesem Mann, der nicht mehr war als ein kleiner Beamter, einen Rang im Zentrum des Ordens – in der eigentlichen Bruderschaft – zugestanden, den er niemals würde erlangen können. Er war genau jene Sorte Mann, die danach strebte, sich mit gesellschaftlichen Verdiensten zu schmücken. Ihm einen solchen intellektuellen Rang zuzuschreiben, das war für einen Mann wie ihn dasselbe, wie ihn tatsächlich zu erlangen; der äußere Schein war für diese Männer Wirklichkeit. Der äußere Schein war es, der zählte, nicht die tatsächliche Leistung. »Und worin besteht nun das Können dieses Mannes?«
Nicci neigte abermals ihr Haupt. »Richard Cypher ist ein noch unbekannter Bildhauer, Protektor Muksin.«
Die beiden Männer rechts und links von ihr machten ein ungläubiges Gesicht.
»Ein Bildhauer?«, wiederholte der Protektor, in Gedanken bei dem Wort verweilend.
»Ein namenloser Künstler, der nur eine einzige Hoffnung im Leben hegt: Er möchte eines Tages mit Stein arbeiten können, um die Schlechtigkeit der Menschen aufzuzeigen und ihnen auf diese Weise vielleicht zu der Erkenntnis zu verhelfen, dass sie anderen und dem Orden Opfer bringen müssen; dadurch hofft er, sich seinen Lohn im Leben nach dem Tode zu verdienen.«
Der Schmied hatte sich rasch erholt und setzte noch eins drauf: »Wie Ihr vielleicht wisst, waren viele der Bildhauer am Ruhesitz Verräter – dem Schöpfer sei Dank hat man sie entdeckt –, daher ist noch viel zum Ruhme des Ordens in Stein zu meißeln. Das kann Euch Bruder Narev bestätigen, Protektor Muksin.«
Der Protektor betrachtete die drei nacheinander aus seinen dunklen Augen. »Wie viel Geld habt Ihr dabei?«
»Zweiundzwanzig Goldtaler«, antwortete Nicci.
Er runzelte tadelnd die Stirn, während er das Hauptbuch heranzog und seine Feder in ein aus Stein geschliffenes Tintenfass tauchte. Der Protektor beugte sich vor und trug die Strafe in sein Buch ein. Als Nächstes notierte er eine Anweisung auf ein Stück Papier, das er dem Schmied reichte.
»Bringt dies zum Versammlungssaal der Arbeiter bei den Docks« – er deutete mit seiner Tintenfeder hinter sie –, »diese Straße hinunter. Ich werde den Gefangenen freilassen, sobald Ihr mir ein Siegel des Arbeiterkollektivs vorlegt, welches beweist, dass die Strafe an jene Personen ausbezahlt wurde, denen das Geld am ehesten zusteht – den Bedürftigen. Richard Cypher muss seines gesamten unrechtmäßig erworbenen Besitzes entledigt werden.«
Richard war es, dem es am ehesten zustand, fand Nicci voller Bitterkeit. Er hatte es verdient, nicht diese anderen Kerle. Nicci musste an all die Nächte denken, die er ohne Schlaf und ohne etwas zu essen durchgearbeitet hatte. Sie erinnerte sich, wie er stöhnend zu Bett gegangen war, weil ihm der Rücken von der Plackerei schmerzte. Richard hatte dieses Geld verdient – das war ihr jetzt klar geworden. Die Männer, die es jetzt bekommen würden, hatten nichts dafür getan, außer es zu begehren und daraus ihr Recht abzuleiten.
»Sehr wohl, Protektor Muksin«, erwiderte Nicci und verbeugte sich. »Ich danke Euch für Euren weisen Entschluss.«
Mr. Cascella stieß einen leisen Seufzer aus, derweil Nicci sich noch einmal vertraulich an den Protektor wandte.
»Wir werden Eure gerechten Anweisungen umgehend ausführen.« Sie setzte ein unterwürfiges Lächeln auf. »Dürfte ich Euch, da Ihr uns in dieser Angelegenheit so wohlwollend behandelt habt, um eine weitere unbedeutende Gefälligkeit bitten?« Es war eine Menge Gold, die man ihm für seine Bemühungen zugunsten des Ordens gutschreiben würde; sie
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