Schwester der Finsternis - 11
Richard?« Daraufhin lächelte der junge Zauberer, langte unter seine Kapuze und kratzte sich sein kurz geschorenes graubraunes Haar. »Weißt du, warum du diese Arbeit bekommen hast?«
»Weil mir der Orden Gelegenheit geben wollte, dazu beizutragen…«
»Nein, nein«, unterbrach Neal, plötzlich voller Ungeduld. »Ich meinte, ob du weißt, weshalb die Stelle überhaupt frei war? Weißt du, warum wir Bildhauer benötigten, wodurch sich dir die ausgezeichnete Möglichkeit auf eine Anstellung bot?«
Richard wusste nur zu gut, warum sie Bildhauer gebraucht hatten.
»Nein, Bruder Neal. Ich war damals noch ein einfacher Arbeiter.«
»Viele von ihnen wurden hingerichtet.«
»Dann müssen sie Verrat an unserer Sache begangen haben. Ich bin froh, dass der Orden sie gefasst hat.«
Neals verschlagenes Lächeln kehrte zurück, und er zuckte mit den Achseln. »Mag sein. Ich habe gleich gesehen, dass ihre Einstellung mangelhaft war. Sie dachten viel zu sehr an sich selbst, an das, was sie in ihrem Eigensinn … für ihre Begabung hielten. Eine recht altmodische Vorstellung, findest du nicht auch, Richard?«
»Davon weiß ich nichts, Bruder Neal. Ich weiß nur, dass ich bildhauern kann und dankbar bin für die Gelegenheit, meine Pflicht gegenüber meinen Mitmenschen zu erfüllen, indem ich mein Bemühen in ihren Dienst stelle.«
Neal trat einen Schritt zurück und bedachte Richard mit einem abschätzenden Blick, so als wollte er ergründen, ob seine Bemerkung spöttisch gewesen war oder nicht. Richard weigerte sich, Neal die gewünschte Eröffnung zu liefern, also sagte er einfach rundheraus, was er meinte.
»Ich hatte den Eindruck, einige von ihnen hatten es womöglich darauf abgesehen, den Orden durch ihre Arbeit zu verhöhnen. Ich dachte, möglicherweise benutzen sie ihre Bildhauerei dazu, unsere gute Sache zu verspotten und der Lächerlichkeit preiszugeben.«
»Tatsächlich, Bruder Neal? Auf den Gedanken wäre ich nie gekommen.«
»Deswegen bist du auch ein Niemand und wirst immer ein Niemand bleiben. Du bist ein Nichts. Genau wie all diese anderen Bildhauer.«
»Ich weiß durchaus, dass ich nicht wichtig bin, Bruder Neal. Es wäre falsch zu glauben, ich hätte einen anderen Wert als den meiner Arbeit für das allgemeine Wohl. Ich habe kein anderes Ziel, als hart im Dienste des Schöpfers zu arbeiten, um mir meinen Lohn im nächsten Leben zu verdienen.«
Das Lächeln war erloschen und wich einem leidenschaftlich finsteren Blick. »Ich befahl, sie hinzurichten – nachdem ich aus jedem von ihnen ein Geständnis herausgefoltert hatte.«
Richards Faust ballte sich fester um den Meißel. Obwohl er äußerlich ruhig war, spielte er mit dem Gedanken, Neal den Meißel durch den Schädel zu treiben. Er wusste, dass er es schaffen konnte, bevor der Mann Gelegenheit hatte zu reagieren. Aber was wäre damit gewonnen? Nichts.
»Ich bin froh, dass Ihr die Verräter unter uns aufgespürt habt, Bruder Neal.«
Einen kurzen Augenblick lang kniff Neal argwöhnisch die Augen zusammen. Schließlich schürzte er die Lippen, ließ den Gedanken fallen und wandte sich unvermittelt wehenden Gewandes herum.
»Komm mit«, befahl der Glaubensbruder mit ernster Stimme, während er davonmarschierte.
Richard folgte ihm über das von den kreuz und quer laufenden Arbeitern und dem Material, das auf die Baustelle geschleppt, getragen oder gerollt wurde, zu Morast zerwühlte Feld. Sie schritten an der scheinbar endlosen Fassade des Palastes entlang. Die steinernen Mauern mit ihren unzähligen Fensterreihen wuchsen immer mehr in den Himmel, ihre Anordnung schien endlich Gestalt anzunehmen. Viele der Balken für das zweite Stockwerk waren bereits in die Wandhalterungen eingelassen worden. Das Labyrinth aus Innenmauern wuchs, Innenräume und Gänge festlegend, ebenfalls in die Höhe. Die Gänge im Palast würden sich über Meilen erstrecken, und es gab Dutzende von Treppenhäusern in den unterschiedlichsten Phasen ihrer Entstehung.
Nicht mehr lange, und einige der Räume im Kellergeschoss würden mit Eichendielen abgedeckt und damit verschlossen werden. Zuvor allerdings musste das Dach über diesen Abschnitten fertig gestellt werden, damit der Regen die Fußböden nicht ruinierte. Für einige der weiter außen gelegenen Räumlichkeiten waren Dächer vorgesehen, die niedriger waren als das sich zu schwindelnder Höhe aufschwingende Hauptgebäude. Richard erwartete, dass man diese niedrigeren Gebäudeteile noch vor den winterlichen Regenfällen
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