Schwester der Finsternis - 11
beängstigend. Es gelang ihr, einen Arm zu befreien, sodass sie sich selbst helfen konnte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr dämmerte, dass ein Sturz unter diesen Umständen lebensgefährliche Folgen haben konnte.
Wenn sie nur ihre Kraft besäße.
In ihrer Überheblichkeit hatte sie sich dazu verleiten lassen, sie einfach zu verschachern. Allerdings hatte sie als Gegenleistung das Leben erhalten, was wiederum Richard und Kahlan die Freiheit gekostet hatte. Nicci konnte ihre Kraft nicht einfach aus der Verbindung zurückziehen, da Kahlan sonst sterben würde. Nicci wollte ihr Leben nicht auf Kosten eines anderen – das war, wie sie schließlich begriffen hatte, wahre Verderbtheit.
Nicci hatte Richard gesucht und nicht gefunden. Auch den Schmied, Mr. Cascella, oder Ishaq hatte sie nicht ausfindig machen können. Sobald sie Richard gefunden hatte, würde sie ihm erklären können, dass sie einem Irrtum erlegen war und sie nun endlich Altur’Rang verlassen konnten. Wie gerne sähe sie sein Gesicht, wenn sie ihm mitteilte, dass sie ihn zu Kahlan zurückbringen und den Bann aufheben werde. Ausgerechnet sie waren die Letzten, die für Niccis Einsichten büßen mussten.
Als letzter Ort, wo sie noch nach ihm suchen konnte, fiel ihr die Statue ein. Gut möglich, dass er sich dort befand. Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie kam nicht näher heran. Jetzt dämmerte ihr auch, dass sie sich wahrscheinlich nicht einfach aus dem dichten Gewühl würde befreien können. Höchstwahrscheinlich waren es weit mehr als eine halbe Million Menschen, die sich in der gewaltigen Menge um den Palast drängten.
Und dann sah Nicci Bruder Narev und seine Jünger auf dem Vorplatz erscheinen, allesamt in ihren dunkelbraunen Gewändern, Bruder Narev in seiner geknifften Kappe, die übrigen Gesichter tief unter weiten Kapuzen verborgen. Auf dem rückwärtigen Teil des Vorplatzes drängten sich einige hundert Beamte des Ordens, die angereist waren, um der Weihung des Palastes beizuwohnen – wichtige Männer alle miteinander.
Wenn sie nur über ihre Kraft verfügte, dann hätte sie sie alle auf der Stelle töten können.
In diesem Augenblick erhaschte sie, im Rücken der Beamten, einen flüchtigen Blick auf Richard, umringt von Gardisten. Der gesamte zentrale Bereich rund um den Platz wimmelte nur so von den herrischen Soldaten der Stadtwache.
Bruder Narev trat bis an den Rand des Platzes vor, unter seiner geknifften Kappe und der unter einer Kapuze verborgenen Stirn hervor ließ er den Blick über die Versammlung schweifen. Die Menschen befanden sich in einem Zustand lärmiger, gefühlsgeladener Erregtheit. Bruder Narev schien alles andere als amüsiert zu sein, doch das war er ohnehin niemals. Amüsiertheit, so predigte er stets, war sündhaft. Er hob die Arme und bat sich Ruhe aus.
Als die Menge verstummt war, begann er mit der entsetzlichen schnarrenden Stimme zu sprechen, jener Stimme, die sie, als sie noch klein war, vom ersten Tag an in ihrem Heim verfolgt hatte, jener Stimme, der sie gestattet hatte, ihre Gedanken zu beherrschen, jener Stimme, die ihr, gemeinsam mit der Stimme ihrer Mutter, das Denken abgenommen hatte.
»Bürger des Ordens der Imperialen Ordnung, wir haben für euch ein ganz besonderes Ereignis vorgesehen. Heute werden wir euch das Schauspiel der Versuchung vorführen … und mehr noch.«
In einer gleitenden Bewegung deutete er mit dem Arm hinter sich, auf die Statue. Seine langen, dürren Finger öffneten sich, und seine Stimme polterte vor Abscheu. »Das Böse selbst.«
Ein unsicheres Murren ging durch die Menge. Bruder Narev lächelte; der dünne Spalt seines Mundes zog seine Wangen in Falten, als er wie der Schädel des Todes höchstpersönlich grinste; seine Augen waren ebenso düster wie sein Gewand. Die untergehende Sonne floh, alle Pracht mit sich nehmend, das Geschehen, und zurück blieb der flackernde Schein Dutzender von Fackeln, der sich orangefarben auf die massiven, sich im Hintergrund des Platzes erhebenden Säulen legte, sowie das schwache Licht des Mondes, das die grimmigen Gesichter der Beamten mit einem fahlen Glanz belegte. Die Luft, so überladen von den schweren Gerüchen der Menge, war kalt geworden.
»Mitbürger des Ordens der Imperialen Ordnung«, wiederholte Bruder Narev mit einer Stimme, die nach Niccis Dafürhalten geeignet war, die Mauern zerspringen zu lassen, »heute werdet ihr sehen, was dem Bösen widerfährt, wenn man es mit der Tugendhaftigkeit des Ordens
Weitere Kostenlose Bücher