Schwester der Finsternis - 11
stöhnte die Menge auf. Das Wort gegen einen Ordensbruder zu erheben, das war höchstwahrscheinlich Verrat und ganz sicher Ketzerei.
»Worin besteht mein Verbrechen?«, fragte Richard laut. »Ich habe euch ein Stück Schönheit geschenkt, das ihr betrachten könnt, in der ebenso gewagten wie festen Überzeugung, dass ihr, so ihr denn wollt, ein Recht darauf habt, es zu betrachten. Schlimmer noch … ich habe erklärt, dass es euch zusteht, euer Leben eigenmächtig zu bestimmen.«
Ein lautes Raunen wogte durch die Menge. Richards Stimme wurde kräftiger und verschaffte sich mit ihrer Klarheit über dem Getuschel Gehör.
»Das Böse ist nicht ein einziges, großes Ganzes, sondern eine Ansammlung zahlloser kleiner Schlechtigkeiten, aus dem Schmutz hervorgezerrt von unbedeutenden Männern. Da ihr unter dem Joch des Ordens lebt, habt ihr die Bereicherung der Fantasie gegen den grauen Dunst der Mittelmäßigkeit eingetauscht – die fruchtbare Inspiration von Streben und Wachstum gegen gedankenlosen Stillstand und allmählichen Verfall – das kühne Neuland des Bemühens gegen einen angstbesetzten Morast aus Interesselosigkeit.«
Die Menge lauschte mit starrem Blick und bewegungslosen Lippen. Richard deutete mit seinem Vorschlaghammer, den er erneut mit der mühelosen Eleganz eines königlichen Schwertes schwenkte, über ihre Köpfe hinweg.
»Nicht etwa gegen einen Teller Suppe habt ihr eure Freiheit eingetauscht, sondern schlimmer, gegen die leeren Versprechungen anderer, die behaupten, euch stehe ein Teller Suppe zu, den aber wieder andere für euch bereitstellen sollen.
Glück, Freude, Erfüllung, Leistung … sind keine begrenzten Güter, die es zu verteilen gilt! Kann man das Lachen eines Kindes aufspalten und verteilen? Nein! Sorgt einfach dafür, dass mehr gelacht wird!«
Gelächter, freudiges Gelächter ging durch die Menge.
Bruder Narevs Miene verfinsterte sich. »Wir haben von dem unsinnigen Geplapper dieses Fanatikers genug gehört! Zerstöre deine gotteslästerliche Statue! Auf der Stelle!«
Richard legte seinen Kopf schräg. »Ach? Die vereinte Versammlung des Ordens und der Brüder fürchtet sich vor den Worten eines einzelnen Mannes? So viel Angst machen Euch bloße Worte, Bruder Narev?«
Seine dunklen Augen riskierten einen verstohlenen Blick in die Menge, als diese sich, gespannt auf seine Antwort, nach vorne beugte.
»Worte machen uns keine Angst. Die Tugendhaftigkeit steht auf unserer Seite und wird obsiegen. Sprich deine Gotteslästerungen, damit alle begreifen, warum sittenstrenge Menschen sich gegen dich zusammentun.«
Richard lächelte in die Menge, seine Worte aber waren von brutaler Aufrichtigkeit.
»Jeder Mensch hat das Recht auf ein eigenes Leben. Das Leben eines jeden Einzelnen kann und muss allein ihm gehören, nicht einer Gesellschaft oder Gemeinschaft, denn sonst wäre er nichts weiter als ein Sklave. Weder kann jemand einem anderen das Recht auf sein Leben verwehren noch ihm mit Gewalt das nehmen, was er geschaffen hat, denn damit würde er ihn der Mittel zum Bestreiten seines Lebensunterhalts berauben. Einem Mann das Messer an die Kehle zu halten und ihm vorzuschreiben, wie er sein Leben zu leben hat, ist Verrat an der Menschheit. Eine Gesellschaft kann niemals wichtiger sein als die Einzelwesen, aus denen sie besteht, denn sonst misst man nicht etwa dem Menschen die höchste Wichtigkeit bei, sondern, um den Preis eines niemals endenden Blutzolls, jeder beliebigen Idee, die dieser Gesellschaft plötzlich in den Sinn kommt. Allein Vernunft und Wirklichkeitssinn führen zu einer gerechten Gesetzgebung; geistloses Wunschdenken wird, wenn man es zur obersten Gewalt erklärt, zu einem tödlichen Gebieter.
Mit dem Verzicht auf die Vernunft zugunsten des Glaubens an diese Männer billigt ihr deren Gewaltanwendung zum Zwecke eurer eigenen Versklavung – und des Mordes an euch. Es steht in eurer Macht, selbst zu entscheiden, wie ihr euer Leben gestalten wollt. Ein Wort von euch, und diese erbärmlichen, nichtswürdigen Männer hier oben sind nichts weiter als Ungeziefer. Sie haben über euch keine andere Macht als die, die ihr ihnen gewährt!«
Richard deutete mit dem Vorschlaghammer auf die Statue hinter seinem Rücken. »Das ist das Leben, euer Leben, das ihr leben sollt, so wie es euch gefällt.« Den Kopf des Vorschlaghammers in weitem Bogen schwenkend, deutete er auf die Bildhauereien auf den Mauern. »Das ist es, was der Orden euch zu bieten hat: der Tod!«
»Wir haben genug
Weitere Kostenlose Bücher