Schwesterlein, komm stirb mit mir
Tasse wieder ab. «Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es dem Mörder in beiden Fällen um das in seinen Augen vorgetäuschte Frausein seiner Opfer ging. Der Mord an Manuel Geismann erfolgte spontan. Vielleicht sprach der Täter ihn an, in dem Glauben, eine gewöhnliche Prostituierte mitzunehmen. Als er seinen Irrtum bemerkte, löste das etwas in ihm aus. Wut, Hass, vielleicht die Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis. Er schlitzt Geismann die Kehle auf, und um sicherzugehen, dass er wirklich tot ist, sticht er zudem sechsmal auf den Mann ein. Doch sein Zorn ist noch nicht verraucht, sein Affektstau nicht abgebaut. Also stürzt er sich auf das äußere Merkmal seines fatalen Irrtums, auf Geismanns Geschlechtsteil. Er macht ihn zu der Frau, die er vorgab zu sein. Zumindest fühlt es sich für ihn so an. Damit die Geschlechtsumwandlung unumkehrbar ist, vernichtet er das Geschlechtsteil. Erst dann wird ihm bewusst, was er getan hat. Er schleift die Leiche ins nächste Gebüsch, damit sie nicht zu schnell gefunden wird, und verschwindet. Der Mord hat ihn berauscht und befriedigt, doch nur für kurze Zeit. Etwas ist in ihm aufgebrochen, und es braucht neue Nahrung, ein neues Opfer muss her. Diesmal geht er systematisch vor. Er wählt sein Opfer mit viel Geduld, bereitet die Tat vor. Wieder tötet er auf die gleiche Weise, nur ist durch die lange Wartezeit nach der ersten Tat so viel in ihm angestaut, dass er nicht sechsmal, sondern zweiunddreißigmal zusticht. Dann kommt das Wichtigste: Er muss aus der falschen Frau eine echte machen. Äußerlich ist die Umwandlung perfekt, da gibt es nichts zu verbessern. Und doch fehlt ihr etwas, um eine echte Frau zu sein.»
«Sie kann keine Kinder bekommen.» Stadler sah sie an. «Und deshalb pflanzt er ihr den falschen Fötus ein.»
«Genau.» Liz nickte. «So könnte es gewesen sein.»
«Sie scheinen nicht wirklich daran zu glauben. Warum nicht? Ich finde Ihre Theorie sehr überzeugend. Sie ist schlüssig und erklärt auch, warum der Täter beim zweiten Mal völlig anders vorging.»
«Auf den ersten Blick, ja», gab Liz zu.
«Was stört Sie?», hakte Stadler nach.
«Ich weiß nicht genau. Vielleicht einfach die Tatsache, dass es zu gut passt. Es wirkt fast wie inszeniert.»
«Inszeniert? Wie kommen Sie darauf?»
«Ich kann es nicht genau erklären. Es ist eher ein Gefühl. Das Gefühl, dass ich etwas übersehe.»
Stadler schwieg eine Weile. «Haben Sie trotzdem ein Profil für mich? Was für eine Art Mensch suche ich?»
Liz sah ihn eindringlich an. «Bitte bedenken Sie, dass alles, was ich nun sage, lediglich Vermutungen sind. Erfahrungswerte bestenfalls. Keine wissenschaftlichen Erkenntnisse.»
«Verstanden.» Er nickte ihr aufmunternd zu. «Ich erwarte kein Wunder, auch wenn ich mir eins wünsche.»
Sie lächelte unwillkürlich, dann wurde sie wieder ernst. «Der Mann, der Leonore Talmeier ermordet hat, ist Ende zwanzig, Anfang, höchstens Mitte dreißig. Er führt ein unauffälliges Leben. Er ist sehr kontrolliert, alles, was er tut, hat er vorher genau durchdacht. Er empfindet nicht so wie andere Menschen, doch er ist geübt darin, Normalität vorzutäuschen. Er weiß, was von ihm erwartet wird, und er kann sich gut anpassen.»
«Warum sucht er gerade diese Opfer aus? Hat er etwas gegen Transsexuelle?»
«Das ist schwer zu sagen.» Liz überlegte, wie sie es am besten erklären sollte. «Den sogenannten missionarischen Täter, der eine bestimmte Ideologie im Kopf hat und deshalb Menschen tötet, die ihm verhasst sind, den gibt es meiner Meinung nach nicht. Nicht so zumindest, wie manche sich das vorstellen. Aber natürlich geben uns die Opfer Hinweise auf die Persönlichkeit des Täters. Ich gehe davon aus, dass er eher konservative Vorstellungen von Männern und Frauen und ihrem jeweiligen Platz in der Gesellschaft hat. Vermutlich ist er latent homophob, doch das schließt nicht aus, dass er selbst homosexuelle Neigungen hat. Im Gegenteil, seine eigenen unterdrückten Bedürfnisse könnten sogar der Grund für seine Ablehnung sein. Vielleicht zieht er heimlich Frauenkleider an oder träumt zumindest davon. Vielleicht hat er es als Junge getan und ist dabei erwischt und bestraft worden.»
«Ist er früher schon gewalttätig geworden? Könnte er vorbestraft sein?»
«Erste Frage: Ja. Zweite Frage: Nicht unbedingt.» Liz zeichnete mit dem Finger die Maserung des Tisches nach. «Der Mord an Leonore Talmeier war mit Sicherheit nicht sein erster Gewaltakt.
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