Schwesterlein muss sterben
ihr Gefrotzel einzulassen, »natürlich ist das okay. Es war eben nur so unerwartet. Als wärst du in Wirklichkeit ein ganz anderer!«
»Als Kind habe ich immer mit Perücken rumgespielt«, sagte Mikke, während sich seine Lippen zu einem leichten Grinsen verzogen. »Meine Mutter war Friseurin. Sie ist mit einem Uralt-Kombi immer von einem Dorf zum nächsten und hat den Leuten die Haare gemacht. Manchmal durfte ich auch mit. Und Perücken waren echt das Größte für mich. Perücken und Lockenwickler! Weißt du eigentlich, was das erste deutsche Wort war, das ich gelernt habe?«
Er grinste sie jetzt offen an.
»Was? Nein, wieso …«
Julia wusste nicht, worauf er hinauswollte. Sie war sich sicher, dass sie nie erwähnt hatte, wo ihre Mutter herkam.
»Schwarzkopf«, platzte Mikke heraus, wobei er das Wort überdeutlich aussprach und gleich noch mal wiederholte, diesmal mit tiefer Bassstimme und rollendem »r«: »Schwarzkopf. – Du weißt schon, diese Haarpflegemittel aus Deutschland. Der Name stand immer auf den Packungen.«
Jetzt lachte auch Julia.
»Ach so, das meinst du«, sagte sie erleichtert und kam sich selber lächerlich vor, dass sie Mikke gerade verdächtigt hatte, irgendeine dumme Andeutung zu machen. Natürlich hatte er keine Ahnung, dass ihre Mutter aus Deutschland kam!
Aber irgendwie hatte sich die Stimmung zwischen ihnen verändert. Und als sie mit den Fingerspitzen über die elastische Binde an Mikkes Handgelenk strich, war plötzlich dieses Gefühl wieder da, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.
»Was ist das mit deiner Sehnenentzündung?«, fragte sie leise. »Hast du immer noch Schmerzen?«
»Geht so. Wird langsam besser.«
Er griff nach ihrer Hand und zog sie an seinen Mund. Dann blickte er sie an und sagte: »Ich glaube, ich mach mich mal vom Acker. Ich hab noch ein bisschen was zu tun. Hab ich vorhin nur nicht sagen wollen, weil du so fertig warst am Telefon. Kommst du jetzt alleine klar? Ich meine, sonst bleibe ich auch, es ist nur … ist eigentlich ziemlich wichtig, was ich da noch machen muss.«
Julia zog irritiert die Augenbrauen zusammen. Irgendwas war komisch mit Mikke, als würde er jedes Mal, wennes ihm zu nah wurde, die Flucht ergreifen. Aber vielleicht war die Erklärung auch viel einfacher. Falls er wirklich noch eine Freundin hatte, ging es wahrscheinlich genau darum.
»Es ist okay«, sagte Julia. »Mach dir keine Gedanken um mich, es war schön, dass du gleich gekommen bist, das hat mir echt geholfen. Und irgendwas machen kann ich sowieso nicht, wegen Marie, meine ich. Ich kann nur hoffen, dass …« Sie zuckte mit den Schultern. »Wo wohnst du eigentlich, Mikke?«, fragte sie dann, als er sie kurz an sich drückte und aufstand.
Die Frage war ihr einfach so rausgerutscht, obwohl es genug andere Dinge gab, die sie dringender wissen wollte.
»Das willst du gar nicht wissen«, kam seine Antwort. »Das Loch kann man echt keinem zumuten. Ich geh eigentlich auch nur noch zum Schlafen hin. Aber ich bin gerade dabei, mir was Neues zu suchen. Und dann bist du die Erste, die ich einlade. Großes Ehrenwort.«
Er war schon im Flur und an der Wohnungstür, als er sich noch einmal umdrehte.
»Ach ja, noch was. Wegen deiner Mutter. Ich lass mir was einfallen, wie ich das wiedergutmache, okay? Ich glaube, ich hab auch schon eine Idee. Lass dich überraschen!«
Als er die Treppe hinunterlief, meinte Julia ganz deutlich ein Stockwerk tiefer eine Tür zu hören, die schnell geschlossen wurde. Entweder der kleine Stalker oder seine neugierige Mutter, dachte sie. Dann ging sie zurück in ihr Zimmer und schob die erstbeste CD in den Player, die ihr in die Finger kam. Sie drehte die Lautstärke hoch und ließ sich aufs Bett fallen.
Das Kissen war noch warm und strömte Mikkes Geruch aus – Tabak und irgendein Shampoo, Schwarzkopf wahrscheinlich,dachte Julia und kicherte leise, bevor sie das Schluchzen nicht mehr unterdrücken konnte und die Tränen kamen.
»There’s a little bird«, sang Marianne Faithfull, »that somebody send, down to the earth …«
MERETTE
Als sie die Zeitung aufschlug, zuckte sie unwillkürlich zurück. Unter der Schlagzeile JUNGE FRAU VERMISST! blickte ihr nicht etwa Marie entgegen, sondern ihre eigene Tochter, Julia! Erst bei genauerem Hinsehen wurde Merette klar, dass sie sich getäuscht hatte, die Augen stimmten nicht, der Mund war zu groß, die Kinnpartie zu ausgeprägt. Natürlich war es Marie, aber die Ähnlichkeit mit Julia war
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