Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
Vom Netzwerk:
betrachtete das Lokal, angelte Erdnüsse. Er beugte sich zu meinem Ohr und fragte, ob ich etwas anderes als Whiskey trinken wolle. Ich betrachtete seine Hände, er trug keinen Ring, aber vielleicht war er trotzdem verheiratet. Ich, ein Ehebruch! Vielleicht hatte sich Mutter geopfert, damit meine Zukunft in Standfestigkeit mit diesem Mann mündete, anstatt in der Versorgung Maries. Diese Gedanken wirkten wie Juckpulver. Ich wollte mich kratzen. Im Bergwerk einem Mann gegenüberzustehen, der mir gefiel, der meine Organe in Vibration brachte, meine Physis mir liebenswert erscheinen ließ, so dass ich mir dieses ewige Ausgeliefertsein an die vegetative Selbsterhaltung verzieh, versöhnte mich mit Mutter, deren zahlreichen Abschiede mich in Schmerzen gestürzt hatten, die nur der Tod wird enden können. Meine Nerven schlugen Wellen bis in den Skalp. Pauls große Hand mit den hellen Nagelbetten lag ledern schwer auf meinem Arm. Sein Parfum roch herb wie Papier mit Druckerschwärze getränkt. Ich wollte immer schon einmal einen Menschen lesen. Vielleicht an diesem Abend. Aber zuerst, beschloss ich still, müsste ich mich erleichtern.
    Ich ging auf der Toilette in die Kabine und sperrte die Tür zu. Zog das Kleid hoch. Kaum hatte ich Platz genommen, hörte ich, wie die Tür geöffnet wurde und jemand den Waschraum betrat. Die Schritte setzten schwer auf. Die Absätze waren breit und die Schuhe bequem, denn das war kein Trippeln, sondern ein Schreiten, das ich hörte. Das Räuspern klang männlich. Die Schuhsohlen knirschten trocken wie beim Auftreten auf Kies. Dann wieder das Räuspern und ein Schnäuzen. Meine Halsschlagader pumpte pochend vom Herzen das Blut. Dann hörte ich Öffnen und Schließen der zweiten Kabinentür. Ich drückte die Spülung und hielt mir die Ohren zu, nur um nicht zu hören, welche allzu menschlichen Geräusche herüberdringen könnten. Stille. Lauschen. Dann das Wasserrauschen. Wieder öffnete sich die Kabinentür. Schritte und Stillstand und das Quietschen des Wasserhahns. Schnell streifte ich das Kleid glatt. Zupfte mir ein paar Locken in die Stirn und drehte das Schloss auf. Ich fasste Mut und trat hinaus.
    Paul stand vor dem Waschtisch mit dem Rücken zu mir. Er war mir gefolgt und wollte wohl nicht mehr länger warten. Ich näherte mich ihm von hinten. Er hatte mich noch nicht bemerkt. Sein Blick war auf die Gürtellinie gerichtet und die Hände fummelten dort herum. Erst als ich knapp hinter ihm stand, hauchte ich „Hallo!“, schob die Hände sanft in seine Taille und strebte, ihn von hinten zu umarmen. Paul erschrak fürchterlich. Er fuhr zusammen, als wollte ihn der Teufel holen. Er riss den Kopf hoch und erwischte mein Nasenbein. Ich spürte keinen Schmerz. Bevor er etwas sagen konnte, flüsterte ich noch bravourös wie eine Diva, die ihren Text auch bei einer Panne vor der Kamera nicht vergisst: „Gehen wir zu mir oder zu dir? Ich warte draußen auf dich.“
    Ich verließ siegesbewusst den Waschraum und trat hinaus ins Lokal. Ich atmete auf und gefasst gönnte ich mir eine Pause. So stand ich zwischen Tür und Garderobe und entdeckte zu meinem Entsetzen, wo ich hingeraten war. Ich hatte mich gründlich verirrt. Mir stockte der Atem, ein Schnalzen ging durch meinen Schädel, als hätte ich einen Filmriss, der die Verbindungen von Paul zu mir, von Hirn zu Zunge und Lunge kappte. Reiß dich zusammen, sagte ich mir. Das Zeichen, auf das ich stierte, war kein Zufall. Ich war aus Ablenkung und Missgeschick auf der Männertoilette gelandet. Paul war mir nicht aufs Klo gefolgt. Ich war in die falsche Abteilung gegangen, denn die Tür mit der aufgenagelten Damensilhouette war nebenan, dort hätte ich hingehört.
    Ich hätte mich am liebsten im Nacken gepackt wie eine Katzenmutter ihr flügge werdendes Katzenjunge, hätte mich gebeutelt und weggeschleppt und totgebissen. Was für eine Schande. Ich raste aus der Bar und verschwand zu Hause in den Tiefen des Kellers. Die Übelkeit verwandelte sich in einen durchgehenden, den Körper auf Hochspannung haltenden Brechreiz, der sich nicht erfüllen konnte und sich erst entlud, als ich nach dem Messer griff, mit dem ich das Fleisch aus der Kokosnuss schabte. Es drang durch die Haut und schnitzte Raspeln aus meinem Unterarm, so dass endlich die Spannung nachließ und wenigstens das Blut aus mir heraus erbrechen konnte. Kälte. Nacht. Keller. Vor dem Fleisch der Ahnen ekelt mir, und ihre ungewollten Berührungen suchen mich heute noch heim. Doch nun war

Weitere Kostenlose Bücher