Schwestern der Angst - Roman
über auf den Stäben eines elektrisch betriebenen Heizgerätes. Ich erforschte das Areal rund um das Waschbecken in ihrem Zimmer. Die weibliche Intimität aus Schminkstiften und hautfarbenen Cremes, die Flakons und Lippenstifte. Als Mädchen für alles hatte ich nun eine wertvolle Bereicherung, eine erwachsene Putzfrau für die paar Fremdenzimmer, die wir ausgebaut hatten und über den Sommer vermieteten. Es gibt viele eitle Männer, die ihre gesammelten Ejakulate nicht in die Toilette warfen, nicht hinunterspülten in die Kanalisation, sondern sie lieber eingewickelt in einem Taschentuch auf dem Boden neben dem Bett verrotten ließen. Diesen Abfall entfernte ich stets, bevor Marie die Fremdenzimmer betrat. Die Griechin war eine saubere Frau, sie hatte diese Aufgabe ganz übernommen. Als hätten wir uns abgesprochen, Marie nicht verderben zu lassen.
Kaum war die Frau im Haus, verstand ich mich mit Marie besser. Sie inspizierte mit mir die intimen Spuren der Griechin. Wir ermittelten ihre erotischen Neigungen. Lauter harmlose Dessous. Dass Vater sie als Dienstbotin allzu bevorzugt behandelte, ihr diente wie einem zahlenden Sommergast, signalisierte uns bereits, dass zwischen den beiden eine engere Beziehung bestehen musste. Die Griechin kam als Gast und blieb als Ehefrau. Das war gut so, denn wer weiß, Vater hätte mich oder Marie als Sklavinnen benützen und einsperren können. Diesen Gedanken kann ich erst neuerdings zulassen, weil es fast normal ist, dass so etwas überall passiert auf der Welt.
Ich ordnete also an diesem Abend die Kassabons und unterbrach die Arbeit, weil ich den Allesfresser schmatzen hörte. Marie war nicht nur gefräßig, sie war süchtig nach einem besonderen Stoff. Ein Lösungsmittel, das Zeitungspapier beigemengt war. Sie riss sich üblicherweise Tageszeitungen in kleine Quadrate und legte sich die Ausschnitte wie eine Hostie auf die Zunge. Das Papier schmolz, von Speichel getränkt, bevor sie den Dreck schluckte. Hörte ich dieses Knistern und Schlürfen des zusammengelaufenen Speichels, prickelte die Sorge in meinem Körper, an diesem Abend aber im ganzen Gemäuer. Wieso wurde das Knistern und Prickeln lauter und ein Klirren und Knarzen kamen dazu, als ginge das Haus aus dem Leim? Über mir hing der Luster an einem Balken. Glasbläser hatten den Kristallen Leben eingehaucht. Der Luster baumelte. Vor den Fenstern der Rezeption tschilpten die Vögel in der Kastanie. Es war aber dunkel. Bei Nacht tschilpt nur ein Totenvogel. Ich setzte mich aufrecht hin. Als mir bewusst wurde, dass der Boden schwankte, die Lampen schaukelten und etwas vor sich ging, das ich nicht verstand, rief ich Marie um Hilfe. Plötzlich wurde es noch lauter und der Fensterrahmen verzog sich, das Glas bekam Sprünge. Die Vögel brüllten und der Tisch stampfte auf, als triebe eine unsichtbare Macht ihr Unwesen. Ich dachte sogar an Mutter. Ich erhob mich mittlerweile schon panisch, da schoss mir meine Verpflichtung durch den Kopf. Der einzige Mensch, der Marie helfen konnte, war ich. Sie stand ratlos auf der Schwelle. Wie ein Engel flog ich ihr zu, nahm sie unter den Arm und zog sie unter den Tisch. Wir zitterten, ihr Unterkiefer bebte. Ich hielt sie eng umschlungen. Ich roch ihr Parfum und die billige Seife an meinen Händen. Sie versuchte sich meiner Umklammerung zu entwinden, und plötzlich biss und kratzte sie mich. Ich war verärgert und gekränkt, ließ sie nicht los, denn sie wollte unter dem Schreibtisch hervorkriechen. Ein Kampf entfachte sich. Im letzten Augenblick zwang ich sie auf den Rücken. Da krachte der Luster herab und zerschellte vor meinen Augen. Nun war Ruhe. Die Splitter sprenkelten den Boden. Sie glänzten rosa, hellblau, dunkelgrün und granatapfelrot. Die Geister hatten genug gewütet. Und als Schwester der Angst war Marie für ein paar Augenblicke fair. Dann streichelte sie zärtlich meine Wange und sagte: „Du hast Glück gehabt.“ Ihre Finger färbten sich rot. Sie hatte mein Blut an ihren Händen. Mein Gesicht war zerkratzt und in der Stirn steckte ein Glassplitter, die Wunde klaffte. Ich habe noch heute eine Narbe davon.
Da klopfte jemand an die Auslage des Eissalons, ein Mann mittleren Alters. Er hatte die Detonation des zerberstenden Lusters von draußen mitbekommen. Die Kabelfetzen ragten aus der Decke, und obwohl alles dunkel war, befürchtete der Unbekannte, dass ein Feuer ausbrechen könnte. Er alarmierte für uns die Feuerwehr. Erst dann hielt er Nachschau, ob sein BMW einen
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