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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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den Sprachaufenthalt für Marie zu organisieren. Nichts lieber als das, so konnte ich mir freie Bahn verschaffen und Paul ungestört erobern, ihm wie Echo dem Narziss folgen. Ich war überzeugt davon, Echo, die Stalkerin, verwandeln zu können in eine von Narziss begehrte Frau. Lieber wäre ich auf Pauls Bett als am Telefon gesessen, um meine Schwester abzuschieben, aber was tut man nicht alles für sein Glück.
    Ich musterte mich während der Telefonate im Spiegel. Gestalt als Zeichen meiner Person, die dieser Spiegel mir einspeiste. Ich konnte keine Verbindung zum Begriff Schönheit fühlen. Ich verstrickte mich in der Sehnsucht, mich so schön zu sehen, wie ich schließlich bin. Vokabeln entströmten meinem Mund, aber sie drückten nicht aus, was ich fühlte, wer ich sei. Sie waren zu faule, langatmige, schwere Boten. Ich liebte ihn, aber das klang zu kurz. Hingabe ist nicht passiv, sie ist eine Anstrengung. Ich kaufte mir Stöckelschuhe und kurze Röcke, durchsichtige Blusen, Lippenstift und bunte Unterwäsche, wasserfeste Schminke. Fütterte mich mit Chemie, schwächte mich durch Fasten, um passiv zu werden, und übte das Schibboleth der Liebesformel, wie es nur aus mir heraus total echt erklingen kann.
    Ich hätte Marie erwürgen können, ihr Gainsbourg nachgeplärrtes „Je t’aime“ abtöten, die blonden Haare abrasieren, ihr die blauen Augen herauslöffeln. Mir war klar, dass sie verschwinden musste. Meine Sehnsucht, so zu sein wie sie, unbeschwert, liebenswert trotz aller Phantasien, verwandelten meine Bande in Fesseln.
    Ein Milieu der Geborgenheit in einer Familie bedeutet, Liebe in Fürsorge zu verwandeln. So erstirbt die erotische Liebe zwischen Mann und Frau und das ist gut für die Nachkommenschaft. Dazu braucht es bewältigte Vergangenheit. Man verliert, woran man festhält. Wer Trennung lebt, verliert nie. So lag ich auf dem Bett meines Liebsten und erwog Zukunftspläne. Der Vorhang blähte sich mir zum Zeichen eines noch unerfüllten Kinderwunsches. Der Wind blies in den Stoff und ein Bauch wölbte sich herein ins Zimmer. Der kalte Hauch trieb mich aus dem Bett ins Bad. Ich flocht mir Zöpfe. Da ertönte knirschendes Klimpern, und mit geschlossenen Augen waren Schritte über Kies erahnbar, schwarze Lackschuhe, die an Mädchenfüßen steckten und unter dünnen Hosenröhren herausragten. Marie trat ein und grinste triumphierend, „stell dir vor“, sagte sie, „Papa schickt mich weg. Ich fahre ans Meer.“
    Ich freute mich aufrichtig über Maries Freude, an die französische Riviera verfrachtet zu werden. Ich riet ihr mütterlich: „Da musst du dich aber mit einem hohen Sonnenschutzfaktor eincremen.“ Dann dachte ich kurz nach und sagte: „Aber wieso weißt du schon davon? Ich habe deine Reise noch gar nicht gebucht.“
    „Das hat Papa erledigt“, antwortete Marie.
    „Wohin genau fährst du?“, fragte ich.
    „Nach Antibes in Pauls Ferienhaus“, sagte sie und lächelte verschmitzt.
    „Am liebsten bin ich mit auffrisierten Gefährten unterwegs“, gestand Paul und zählte auf: „Motorrad, Auto, Frau.“ So sprach er, der junge Hirnforscher, und zählte mit den Fingern bis drei. Das überlegen wirkende Lächeln, mit dem er mich betörte, war gleichzeitig zum Kotzen. Eindeutig, es war ein Kindergesicht, das ich sah, als es noch vor Unschuld strahlen mochte, während es durch seine gierig verschlingenden Augen vor Lust auf Abenteuer strotzte.
    „Aber nicht mit meiner Tochter“, sagte Vater.
    Paul entschuldigte sich für seinen Lapsus. Natürlich würde er vorsichtig fahren und Marie nicht aus den Augen lassen. Sie würde des Französischen mächtig und wohlbehalten zurückkehren. Biochemische Prozesse hin oder her, ich war böse auf Marie und noch böser auf diesen Vater, der ihr die Reise nach Frankreich eingebrockt hatte, die ich dann auszulöffeln hatte.
    Marie hatte sich trotz der Aussicht auf Freiheit vor der Reise gefürchtet. Zur Selbstermutigung streckte sie die gefaustete Hand aus und sagte: „Ich schaffe das“, und schüttelte die Mähne. Während ich noch darauf hoffte, dass Paul niemals ein Wort über unsere Begegnung in der Toilette sagen würde, entdeckte ich, dass Maries Haar nach Pauls Rasierwasser roch.
    Die Gesichtshaut war blutrot innert Sekunden, als hätte ich mich mit Blut gewaschen. Ich stellte mich unwillkürlich auf die Zehenspitzen, um Marie zu küssen. Sie senkte nicht einmal das Haupt. Sie wurde zu oft von intensiven Männerblicken gewürdigt, als dass sie

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