Schwestern der Angst - Roman
versucht, ihn abzuschneiden und Marie zu schicken, damit sie sich meiner erinnerte. Der Juckreiz befiel mich und die Neurodermitis schien mich vor der Versehrung zu schützen. Ich kratzte mich und ritzte nur oberflächlich die Innenseite meiner Schenkel auf.
Mein Blick fiel auf Pauls Perlenkettchen. Es lag auf dem Boden. Ich hob es auf, spielte mit den aufgefädelten Kügelchen des Bräutigams. Setzte das Messer an und schon riss der Faden, die Perlen fielen hinab und spritzten auseinander, rollten davon wie Quecksilber. Dann hatte ich genug. Ich verließ die Wohnung.
Für eine erfolgreiche Wissenschaftlerin lebte Marie eigentlich immer bescheiden. Ich wusste meist, wo sie wohnte. Die U-Bahn verband uns wie eine Nabelschnur. Die paar Stationen, die uns trennten, nahm ich gern in Kauf, wenn ich dafür in derselben Stadt wohnen durfte. Unsere Wege kreuzten sich in all den Jahren nie, darauf achtete ich. Trotzdem sorgte ich für Marie. Die Bekanntschaft mit ihrem Fleischhauer brachte Abwechslung auf ihren Speisezettel.
Immer wieder, wenn mich die Sehnsucht plagte, half ich in der Küche der Fleischhauerei aus und kochte das Mittagsmenü. Ich kochte ihre Lieblingsspeisen. Der eisige Wind blies mir Kristalle ins Gesicht. Doch ich scheute kein Wetter, ging auch bei diesen Temperaturen auf die Straße, um den Boten zu begleiten, der ihr das Essen ins Labor brachte. Marie arbeitete damals an der medizinischen Fakultät. Ich blieb unsichtbar, drängte mich nicht auf. Ich schickte ihr Zeichen meiner Liebe. Als ich einmal die Auslage des Fleischhauers dekorierte und Marie gerade vorbeistapfte, versteckte ich mich hinter der Wurstaufschneidemaschine. In der Hoffnung, sie würde wieder an der Auslage vorbeigehen, legte ich ihr zum Gruße die gefüllten Schwanenhälse zu einem Herzen geformt hin.
Marie übermittelte nie Dank für die Dienste und Speisen, die ich ihr zukommen ließ, und oft, wenn ich den Müll ihrer Firma und den Privatmüll ihrer Wohnung durchsuchte, fand ich die verschmähten, sogar noch warmen Speisen lieblos weggeworfen wieder. Marie lebte Ignoranz. Sie nahm, wenn Paul fort war, Freundinnen nach Hause und sie schliefen bei ihr, während ich allein in der Gasse wachte.
Maries Gesicht war zart gewesen. Nun war es zumindest für eine gewisse Zeit vorbei mit der Schönheit. Sie trug einen Mundschutz, wohl um die frisch operierten Lippen vor Kälte, Staub und UV-Strahlung zu schützen. Sie wechselte täglich den Verband. Ich fand die Wundpolster ein halbes Jahr lang im Restmüll. Ich trennte die Abfallprodukte und brachte den Sondermüll zur Deponie, mehr konnte ich nicht tun.
Die teuerste Massage im teuersten Spa-Salon der Stadt hatte ich für sie gebucht, um sie für meine Züchtigung zu trösten, und schickte ihr die Einladung zum Geburtstag, diskret als Werbegutschein getarnt. Als ich Maries Wohnung beobachtete, konnte ich an den schwarzen Fenstern rasch erkennen, dass sie nicht zu Hause war. Ich wartete im Hauseingang gegenüber, ob sie für längere Zeit fortbliebe. Dann hechtete ich über die Straße und drückte den Klingelknopf. Kein Ton. Keine Antwort. Also ging ich Nachschau halten. Wäre Licht in den Fenstern zu sehen gewesen, hätte ich es nicht gewagt aufzutauchen. Ich war stets traurig an Maries Geburtstagen, denn es war mir verboten, persönlich zu gratulieren. Mir war zu schwer ums Herz, um nach Hause zu gehen. So legte ich ihr den Massagegutschein vor die Tür.
Tage darauf hatte ich im Altpapier nach Hinweisen auf Gratulanten und Geschenkpapier gewühlt. Mein Geschenk im ungeöffneten Umschlag des Wohlfühl-Salons fiel mir in den Schoß. Ich liebe den Hang zur Exzentrik, aber ich billige es nicht, wenn meine Geschenke verfallen gelassen werden.
Lange hatte ich auf den richtigen Moment gewartet, den Gutschein einzulösen. Ich beschloss, noch heute diesen Spa-Salon aufzusuchen. Es war schon spät, aber der Spa hatte rund um die Uhr geöffnet.
Ich fragte mich manchmal, ob die Ausgrenzungskraft Maries nicht einfach faschistisch war. Hielt sie sich für etwas Besseres, weil sie im Herzen Europas geboren war? Sie war jedenfalls nicht das Herz Europas. Weil ich von ihr ausgeschlossen wurde und daher depressiv werden musste. Ein Spa würde mir helfen, mich aufzurichten, die neuen Hochzeitspläne zu verdrängen. Nach dem Spaziergang durch die Kälte tat es mir außerordentlich gut, auf die Etage einer hygienischen Welt zu kommen und von den plätschernden Klängen eines Brunnens, Düften und
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