Schwestern der Nacht
Ermordung der Supermarktkassiererin vor zwei Monaten aufwies. Auch sie war nachts erwürgt worden, wenn sich auch in ihrem Fall die Kordel eines japanischen Nachtgewandes in ihren Hals gegraben hatte. Die Übereinstimmung ging sogar noch weiter: Als Kimiko Tsuda in Kinshi-Cho umgebracht worden war, hatte er da nicht zum erstenmal mit Fusako Aikawa im Bett gelegen? Und heute, hatte er sich da nicht eigentlich mit Mitsuko Kosugi amüsieren wollen, während Fusako starb? Eine furchtbare Vorahnung überfiel ihn, aber er versuchte sie zu ignorieren, indem er immer wieder »Nein! Nein!« vor sich hin murmelte. Sein Besuch bei Fusako war schließlich einer ganz spontanen Regung entsprungen. Wenn er nicht an ihrem Türknauf gedreht hätte, wäre er in völliger Unwissenheit wieder verschwunden. Fusakos Tod konnte nichts mit ihm zu tun haben. Doch irgendwo in seinem Hinterkopf hörte er eine Stimme flüstern: »Glaubst du das wirklich? Hat Fusako Aikawas Tod wirklich nichts mit dir zu tun?« Und die Stimme war durch nichts zum Schweigen zu bringen.
Das Taxi hielt vor seiner Geheimwohnung an, und Honda drückte dem Fahrer gedankenverloren einen 500-Yen-Schein mit der Bemerkung in die Hand, den Rest könne er behalten. Der Mann, ein gutmütig aussehender Alter, nahm seine Mütze ab und dankte ihm unter überschwenglichen Verbeugungen. Während er das tat, prägte er sich das Gesicht dieses ungewöhnlichen Fahrgastes ein, der ihm ein Trinkgeld in doppelter Höhe des Fahrpreises gegeben hatte. Ein weiterer Zeuge war bereit, gegen Honda auszusagen.
Er betrat das Meikei-So und legte sich aufs Bett, ohne sich auszuziehen; er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und blickte an die Decke. Seine schwarz umschatteten Augen waren leer. Wie konnte ihm so was nur passieren? Bisher waren seine heimlichen Affären immer vollkommen glatt über die Bühne gegangen. Bestimmt war gar nichts los — alles purer Zufall, oder? Er kämpfte erfolglos gegen die Zweifel an. Ein neuer finsterer Gedanke ergriff Besitz von ihm... beide Frauen waren seine Opfer gewesen, beide hatten sexuellen Kontakt mit ihm gehabt. Und während er sich auf ein neues Opfer stürzte, wurde das alte umgebracht. Eine Epidemie vielleicht — irgendein geheimnisvolles Virus, das die Stadt unsicher machte und dessen Träger er war? Er löste seine Krawatte, öffnete sein Hemd und massierte sich die Brust. War er ein Aussätziger, dessen Körper nach und nach abfaulte? Die muskulöse, haarige Brust unter seinen Händen konnte ihn in dieser Hinsicht jedoch beruhigen.
Aber dann dachte er plötzlich: >Und wenn jede Frau, die ich anfasse, umgebracht wird?< Das war doch ganz unmöglich? Was bisher geschehen war, war purer Zufall. Absolute Willkür, daß zwei Frauen, mit denen er geschlafen hatte, jetzt tot waren — es konnte gar keinen Zusammenhang geben. Alles bloßer Zufall.
Schwerfällig quälte er sich vom Bett hoch, zog sich um und machte sich zur Rückkehr ins Hotel Toyo bereit. In seinem Kopf klingelte unentwegt das eine Wort: >Zufall<.
3
Ichiro Honda wartete den ganzen Tag über mit wachsender Ungeduld auf das Erscheinen der Abendzeitungen; er rechnete mit einem Artikel über die Entdeckung von Fusako Aikawas Leiche. In seinem Büro im sechsten Stock schaltete er sogar die 15-Uhr-Nachrichten im Radio ein — nichts. Wenn er auch nach dem ersten Mord erstaunlich ruhig geblieben war, diesmal gelang ihm das nicht — vielleicht, weil er die Leiche mit eigenen Augen gesehen hatte.
Er stellte das Radio ab und trat ans Fenster. Auf der Straße tief unter ihm bewegten sich die Autos wie Spielzeuge und die Fußgänger wie Ameisen; aus dieser Höhe war es unmöglich, Männer und Frauen voneinander zu unterscheiden. Er dachte daran, daß unter all den Milliarden Menschen auf der Welt nur zwei von der Leiche in der Wohnung in Koenji wußten, die langsam ins Verwesungsstadium überging; nur zwei Personen — er selbst und der Mörder, der sie erdrosselt hatte. Er fühlte sich dem Täter auf unheimliche Weise verbunden, als hätten sie ein gemeinsames Verbrechen ausgeheckt. Gab es darüber nicht sogar ein Gedicht? Es fiel ihm nicht mehr ein. Er eilte aus dem Büro, um sich die Frühausgaben der Abendzeitungen zu beschaffen.
Im Korridor lief ihm ein Bekannter aus der Abteilung für allgemeine Verwaltung über den Weg. Er trug eine randlose Brille und redete in weiblich klingendem Tonfall.
»Wann geht's denn wieder nach Osaka?«
Ȇbermorgen. Wenigstens bin ich Weihnachten
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