Schwestern der Nacht
hinab. Was für eine wunderbar lebendige Stadt! Sie schien geradezu zu atmen! Was ging es ihn an, daß dort unten unentwegt Menschen starben, unablässig Menschen ermordet wurden?
Seine Frau erwartete ihn am Flughafen Itami. »Willkommen zu Hause«, begrüßte sie ihn lächelnd. »War der Flug angenehm?« Sie machten einen Bummel durch die betriebsamen Straßen von Shinsaibashi, wo sie anschließend auch zu Abend essen wollten. Statt dessen landeten sie in einer Bar, in der Taneko gut bekannt war, und so wurde es Mitternacht, bis sie etwas in den Magen bekamen. Sie hatten einen Tisch für zwei Personen reservieren lassen, und weil mittlerweile der erste Weihnachtstag angebrochen war, folgten sie ihrer gemeinsamen Tradition und bestellten Truthahn und eine Flasche Champagner.
»Erinnerst du dich noch an Heiligabend in New York?« fragte er sie und prostete ihr zu.
»Aber sicher. Wir waren im >Très Bon<«.
»Genau«, bestätigte er, dann wechselte er das Thema: »Laß uns tanzen.«
Sie trug ein tief ausgeschnittenes, schwarzes Kleid mit angesteckter Orchidee. Beim Tanzen schmiegte sie sich eng an ihn; es war ihr gleichgültig, ob die Blume zerdrückt wurde oder nicht. Anschließend kehrten sie an ihren Tisch zurück.
»Ah ja, das >Très Bon<«, seufzte sie wehmütig. »Wir waren damals so grün hinter den Ohren, daß wir nichts anderes kannten. Also sind wir Silvester eben auch dahin gegangen.«
»Genau so war's.«
»Und um Mitternacht, als die Glocken läuteten, umarmten und küßten sich alle, auch wenn sie sich überhaupt nicht kannten.«
»Ja — typisch amerikanisch, findest du nicht?«
»Schon, aber auch sehr schön. Ich wünschte, wir würden wieder in jener Zeit leben.« Sie kuschelte sich an ihn, und ihr seidiges Haar streifte sein Gesicht, aber er spürte einen unkontrollierbaren Widerwillen in sich aufsteigen und drehte den Kopf weg. Als Entschuldigung steckte er einen Zeigefinger vorn in den Hemdkragen und zerrte wie wild daran herum. »Diese Hotelreinigung weiß einfach nicht, wie man ein Hemd vernünftig stärkt.« Seine Frau zog sich zurück und verfiel in Schweigen; wieder einmal waren sie an die feste, undurchdringliche Mauer gestoßen, die ständig zwischen ihnen zu stehen schien.
»Da kann man nichts machen«, murmelte er — wie immer in solchen Momenten. Seine Frau blieb weiterhin stumm, in ihren Augen lag ein unausgesprochener Vorwurf oder auch Bedauern, er konnte es nicht genau sagen.
Nach dem Essen zogen sie durch die Bars und schienen sich, oberflächlich betrachtet, zu amüsieren; sie bestellten Musiker zu sich, sangen und nahmen einen Drink nach dem anderen. Ehe sie sich versahen, war es drei Uhr früh; der Alkohol hatte offenbar einen Teil der zwischen ihnen bestehenden latenten Feindseligkeit fortgespült.
Sie fühlten sich beide nicht mehr sicher genug, um zu fahren, also ließ Taneko ihren Mercedes-Benz in einer Garage stehen, und sie gingen ein Stück Arm in Arm, bis sie ein Taxi erwischten, das sie zurück nach Ashiya brachte. Als sie durch das steinerne Tor traten, ging das Licht in der Eingangshalle an, und die alte Haushälterin tauchte wie ein Geist aus dem Nichts vor ihnen auf.
»Willkommen zu Hause, junge Herrin«, verkündete sie auf ihre altmodische Art. Sie war bereits über siebzig und treue Anhängerin der alten Schule; ihre wässrigen Augen musterten die beiden Heimkehrer aufmerksam und ohne jedes Blinzeln. Ichiro fiel der Umgang mit dieser alten Frau, die früher eine Mutterrolle für Taneko gespielt hatte und es heute anscheinend immer noch tat, nicht leicht. Als sie damals aus Amerika zurückgekommen waren, hatte sie dieselbe steife Begrüßungsformel benutzt wie jetzt.
»Du hättest nicht extra aufzubleiben brauchen!« protestierte Taneko. Doch die Alte ignorierte sie und konzentrierte sich ganz auf das Zusperren der Haustür.
Sie warfen einen kurzen Blick ins Eßzimmer, um sicherzugehen, daß Tanekos Vater nicht auch noch auf den Beinen war, und stiegen dann die Treppe hoch in ihr gemeinsames Schlafzimmer.
Ichiro duschte. Als er ins Zimmer zurückkam, war seine Frau mit dem Entfernen ihres Make-ups beschäftigt. Ohne sich stören zu lassen, sagte sie sachlich: »In der Bar hast du ständig diesen einen Satz von Hamlet vor dich hingemurmelt, Schatz. Du weißt schon — >Sein oder Nichtsein<. Was hast du denn damit gemeint?«
Ichiro begegnete ihrem Blick im Spiegel; sie war inzwischen dabei, ihr langes schwarzes Haar zu bürsten.
»Eigentlich nichts
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