Schwestern der Nacht
die Empfindung dadurch wegwischen könnte.
Die Leiche kauerte in kniender Stellung, damit sie besser in den Schrank paßte, die Arme baumelten seitlich herab. Und um den Hals trug sie seine Krawatte! Er wollte schreien, aber seine Stimme schien festgerostet zu sein.
Er kehrte zum Stuhl zurück und setzte sich hin. Sein ganzer Körper bebte vor Angst und Wut. Was sollte er tun? Er zündete eine frische Zigarette an und griff nach dem Aschenbecher — ein pawlowscher Reflex.
Sollte er die Polizei rufen? Den Hauswirt? Wenn er in diese Geschichte hineingezogen wurde, bedeutete das seinen gesellschaftlichen Ruin. Aber was war mit seiner Krawatte um ihren Hals? Was immer er auch tun würde, zuerst mußte er sich die Krawatte beschaffen.
>Sie hing in meiner Garderobe in Yotsuya. Wer hat sie hierher gebracht? Wer hat sie ihr um den Hals gelegt?< dachte er mit wachsender Wut. Dann: >Das war Absicht! Ein neuer Hinterhalt!< Wie konnte er dieser Falle nur entkommen?
Ihm kam ein neuer Gedanke: Je verbissener er versuchen würde zu entkommen, desto fester würde der Griff sein.
Er ging zum Garderobenschrank zurück und öffnete die Tür. Diesmal fiel ihm Mitsuko Kosugis Körper nicht entgegen. Ihr Kopf baumelte locker auf ihrer Brust, ihre Hände hingen schlaff herab. Ihr Haar war völlig zerzaust.
Mit aller Kraft die aufsteigende Übelkeit niederkämpfend, beugte er sich zu ihr hinunter und löste die Krawatte, die sich in ihren Hals gegraben hatte. Sie war sehr fest zusammengezogen; als er sie endlich entfernt hatte, traten die typischen blauen Würgemale deutlich hervor. Er legte die Krawatte zusammen, schob sie in seine Tasche und drückte die Schranktür zum zweiten mal zu.
Dann machte er sich auf den Weg zur Zimmertür. Bevor er den Vorhang hinter sich zufallen ließ, vergewisserte er sich mit einem raschen Blick, daß er nichts vergessen hatte, trat zwei Schritte vor und sah sich, die Hand auf dem Türknauf, noch ein allerletztes Mal um. Abschließend faßte er sich auf den Kopf, um sicherzugehen, daß er seinen Hut aufgesetzt hatte, wandte sich dann um und öffnete die Tür.
Sie ging nicht auf!
Das Blut stieg ihm in den Kopf, er wurde beinahe ohnmächtig. Aber natürlich ging sie auf! Er war doch erst vor wenigen Minuten durch eben diese Tür hereingekommen, oder etwa nicht? Sie klemmte sicher nur. Er nahm den Knauf fest in die Hand, drehte ihn und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Abgesehen von dem Krachen einer nachgebenden Schraube erzielte er keinerlei Reaktion.
Die Tür war verschlossen.
Er hielt inne und spähte durchs Schlüsselloch. Die nackte Glühbirne im Gang beleuchtete die Wand und die gegenüberliegende Tür; sonst nichts. Keine Menschenseele. Er kapitulierte und ging ins Zimmer zurück. >Warum ist sie abgeschlossen? Warum ist sie abgeschlossen?< fragte er sich immer wieder. Wie ein in die Falle geratenes Tier kauerte er sich auf dem Fußboden zusammen. Dann hob er den Kopf und sah das Fenster.
Das war sein Fluchtweg.
Draußen jaulte eine Autohupe auf, sägte an seinen Nerven. Das Kreischen von Bremsen, die Schritte im ersten Stock, das Gedröhn des Fernsehers, die leise Musik ... all das zerrte an seinen Nerven. So entfernt diese Geräusche auch waren, sie kamen scheinbar immer näher. Wände und Boden des Zimmers schienen sich um ihn zu schließen, und schlagartig verlor alles jede Farbe. Er mußte hier raus!
Er kroch zum Fenster und berührte den Vorhang, da fiel ihm plötzlich ein, daß er gesehen werden könnte. Er fuhr zurück und schaltete das Licht aus, wobei er merkwürdigerweise den Staub auf dem Lampenschirm registrierte. Nachdem er sich im Dunkeln wieder zum Fenster vorgearbeitet hatte, öffnete er es.
Draußen war niemand zu sehen.
Er kletterte auf Strümpfen hinaus und schloß das Fenster vorsichtig hinter sich. Der feuchte und schlüpfrige Erdboden ließ seine Fußsohlen vor Kälte erstarren.
Er umrundete das Haus bis zum Vordereingang, spähte hinein und öffnete dann leise die Tür. Er vergewisserte sich, daß er nicht beobachtet wurde, machte die Klappe vom Schuhfach >Kosugi< auf und griff hinein.
Seine Schuhe waren weg!
Er war absolut sicher, sie genau in dieses Fach gestellt zu haben. Was in aller Welt konnte nur passiert sein? Seine Hand tastete das Fach ab; die Pumps waren noch da, nicht so seine Schuhe. Angstschauer jagten ihm über den Rücken, während er fieberhaft ein Schuhfach nach dem anderen öffnete. Seine Schuhe blieben
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