Schwestern der Nacht
antwortete er: »Wenn ich sage nie, dann meine ich auch nie! Wieso sind Sie eigentlich so neugierig?«
Shinji spürte, daß er diesem Gespräch nichts mehr abgewinnen konnte, und machte sich zum Aufbruch bereit. Yamazaki lehnte sich in seinem Stuhl zurück, sah zu Shinji hoch und meinte mit schleppender Stimme: »Blut ist ein langweiliges Thema, finden Sie nicht auch? Bei Sperma sieht das schon anders aus. Neulich gab ich dem Reporter eines drittklassigen Käseblatts ein Interview zum Thema Samenspende. Ist das nicht viel interessanter? Aber wir Spender dürfen darüber natürlich nicht sprechen - Geschäftsethos, könnte man sagen.«
Er begann offensichtlich zu prahlen, deshalb ignorierte Shinji seine Worte lieber, zahlte und verließ den Laden.
Er kehrte ins Büro zurück. Mutsuko Fujitsubo war gerade mit dem Ablegen aller möglichen Unterlagen beschäftigt. Der Alte war bei Ichiro Honda im Gefängnis.
»Wie wohl die Rekonstruktion des Tagebuchs vorangeht?« fragte er, während er einen flüchtigen Blick auf ein Blatt erhaschte, das Mutsuko eben abheften wollte. Dort stand, daß sich unter Hondas Opfern eine Grundschullehrerin befunden hatte. Kleine Fehltritte gab es eben überall.
»Nicht besonders gut, fürchte ich«, antwortete Mutsuko. »Honda kann sich anscheinend nur an halb so viel erinnern, wie der Alte gehofft hat. Und die Detektei macht auch keine großen Fortschritte. Sie haben Dutzende von Leuten auf den Fall angesetzt, aber leider ohne viel Erfolg.«
Es würde außerdem gewiß nicht einfach werden, jemand mit einem Motiv zu finden, auch nachdem das Tagebuch rekonstruiert war. Mutsuko schien das genauso zu sehen. Wenn ihrer beider Vermutung stimmte, hatte der Alte dem Berufungsgericht nicht mehr zu bieten, als was sie bisher herausgefunden hatten. Der Tag der Anhörung kam immer näher, und Shinji war klar, daß er keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Der Mörder hatte eine schwache Fußspur in den Blutbanken hinterlassen; jetzt lag es an ihm, so präzise Details wie möglich zu sammeln und sie dem Alten zu übergeben.
3
Der Abend kam, die Sonne ging unter. Auf dem Bürgersteig vor der heruntergekommenen Kneipe >Renko< hatte jemand Wasser verspritzt, in dem erfolglosen Versuch, den Staub zu vertreiben.
Shinji kämpfte sich durch den schäbigen Vorhang aus Perlenschnüren durch, der den Eingang der Spelunke darstellte. Schnell identifizierte er den alten Mann, der an der U-förmigen Theke an seinem Shochu nippte — einem billigen und hochprozentigen weißen Schnaps —, als Yuzo Osawa. Vor ihm stand tatsächlich ein Teller mit Hackfleisch und Bohnenquark. Die Kneipe war ziemlich voll; fast alle Anwesenden starrten auf den Fernseher, doch als Shinji sich auf dem Stuhl neben Osawa niederließ, stellte er fest, daß die Mattscheibe von hier aus halb durch eine Säule verdeckt wurde. Er bestellte eine Flasche Bier.
Osawa neben ihm umklammerte sein Glas Shochu, als ob er es wärmen wolle. Ab und zu hob er es an die Lippen und nippte langsam und vorsichtig daran. Seine Fingernägel strotzten vor Fett und Schmutz.
»Hallo, kennen wir uns nicht von irgendwoher?« begann Shinji betont jovial das Gespräch.
Osawa drehte sich zu ihm um und sah ihn einfältig an. Er formte eine Hand über dem rechten Ohr zu einer Muschel und sagte: »Was?« Sein stoppeliger, von kahlen Stellen durchlöcherter Dreitagebart trug das seinige zu dem verlotterten Erscheinungsbild des Mannes bei.
»Wir sind uns schon mal irgendwo begegnet, hab' ich gesagt. Stimmt's?«
»Wenn Sie meinen«, erwiderte der alte Stadtstreicher abweisend und widmete sich wieder seinem Shochu. Er zog sich in sein Schneckenhaus zurück; Shinji mußte schnell handeln.
»Ich weiß sogar noch, wo. Wir standen beide Schlange bei derselben Blutbank... ich hab's gleich — ja, das Labor in Komatsu; liegt auf der U-Bahnstrecke nach Keio, stimmt's? Ich hab' gerade heute was verkauft, kommen Sie, ich geb' Ihnen einen aus.«
»Im Ernst? ... Ja ja, da bin ich ganz sicher! ... Das ist aber nett von Ihnen!« Sein Tonfall wurde spürbar freundlicher. Er stürzte den Rest seines Shochu hinunter, als ob er Angst hätte, der Fremde könne seine Meinung wieder ändern. Doch die Art, wie er sich anschließend über den Mund wischte, verriet, wie kostbar der Schnaps für ihn war.
Als ein neues Glas vor seiner Nase stand, konnte er sich endlich entspannen. »Bei euch jungen Burschen klappt's wenigstens noch«, stellte er fest. »Euch kaufen sie noch was ab. Aber bei
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