Schwestern Des Blutes
Mondschein
2. Eishauch
Lynda Hilburn
Tagebuch einer
selbstverliebten Vampirin
1
A ch herrje. Da habe ich ja gründlich verschlafen.
Ich hätte schwören können, dass ich meinen inneren Wecker auf ein Jahrhundert gestellt hatte. Muss an meiner überbeanspruchten Schlummertaste liegen. Ich versuche immer, nicht länger als 100 Jahre am Stück abzuschalten, denn sonst könnte ich ja etwas Interessantes verpassen. Oder jemand Interessanten.
Andererseits ist interessant ein eher relativer Begriff, wenn man schon seit Tausenden von Jahren am Leben – oh, Verzeihung, ich meine untot – ist.
Jawohl, ich bin eine Vampirin. Und nicht nur irgendeine Vampirin – ich bin die älteste und mächtigste Vampirin, die aktuell noch in diesem Vergnügungspark namens Erde unterwegs ist.
Ich habe dieses ach so gruselige Nosferatu-Ding quasi zur Perfektion getrieben.
Und wer hätte schon gedacht, dass meine Kräfte immer weiter wachsen, neue Richtungen einschlagen und sich schließlich selbst übertreffen würden?
Ziemlich bald wird es schlichtweg kein ebenbürtiges Lebewesen mehr neben mir geben. Sozusagen.
Na, wie auch immer, ich habe mir gedacht, es wäre an der Zeit, dass ich mal anfange, einige meiner Heldentaten zu Papier zu bringen. Meine Memoiren zu schreiben. All die guten Dinge herumzuerzählen, gewissermaßen. Also habe ich angefangen, meine geistigen Ergüsse in einem Tagebuch festzuhalten. Und ich teile sie von meinem luxuriösen Mausoleum unter der glanzvollen Stadt Paris aus mit euch allen. Es ist einfach ein großartiger Ort, um sich zu verstecken. Nicht dass ich es nötig hätte, mich zu verstecken, wohlgemerkt. Es gibt da nur gewisse Individuen, denen ich, soweit möglich, gerne aus dem Weg gehen würde. Verehrer können ja so auslaugend sein – und so … ausgelaugt.
Nun, dass wir uns bereits im Jahr 2160 befinden und ich meinen Weckruf für 2100 verpasst habe, ist mir also schon aufgefallen, aber das spielt eigentlich keine große Rolle. Ich werde die Bevölkerung dieser Zeitepoche noch früh genug an meiner reizenden Gegenwart teilhaben lassen. Aber vorher möchte ich euch noch von meiner letzten Stippvisite im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert erzählen. Und von dem pikanten Exemplar Mensch, das ich dort aufgabeln konnte – und in das ich mich auch noch verguckt habe, und zwar kräftig.
Bestimmt ist er heute immer noch sauer auf mich. Aber glaubt mir, wir haben jede Menge Zeit, um das wieder hinzubiegen.
Oh, wie unhöflich von mir. Zara ist mein Name. Oder, falls jemand auf korrekter Namensnennung besteht, Zarafina von Sherbrook. Wobei Sherbrook sich auf die Ländereien bezieht, die sich so ziemlich seit dem Anbeginn der Schöpfung im Besitz meiner Familie befinden. Sie gehören mir ganz offiziell immer noch. Aber alle paar Generationen so tun zu müssen, als sei ich meine eigene Urenkelin, und das nur für irgendeinen Anwalt, wurde mit der Zeit so lästig, dass ich inzwischen kaum noch einen Gedanken daran verschwende. Anwälte – hört mir bloß mit denen auf. Aber ich schweife ab.
Mein Spitzname könnte euch gefallen: Dämonenweib.
Ja, gut. Nicht übermäßig kreativ, zugegeben, aber allem Anschein nach ziemlich zutreffend.
Eigentlich weiß ich gar nicht so genau, wie ich mich zu der Naturgewalt entwickelt habe, die ich heute bin. Ich bin wahrhaft unsterblich, noch über den üblichen Sinn des Wortes hinaus. Es amüsiert mich sehr, dass ich im Moment ernsthaft daran zweifle, dass es überhaupt möglich ist, mich zu töten. Selbst wenn irgend so ein Möchtegern-Van-Helsing mit seiner besten Kollektion an gespitzten Pflöcken, Kreuzen und Knoblauch hier antanzen würde. Ach ja, und wenn wir schon dabei sind: Erinnert mich daran, dass ich euch bei Gelegenheit mal erzähle, was ich von diesem ganzen abergläubischen Blödsinn halte.
Ich wurde ein Kind der Dunkelheit – oder ließ mein normales Leben hinter mir (sucht es euch aus) – im 26. Jahr meiner sterblichen Existenz. Der Typ, der mich verwandelt hat – Jeran –, war die Feld-Wald-und-Wiesen-Ausgabe eines Vampirs: groß, schlank, gutaussehend, mehr als gut bestückt, hypnotisierende smaragdgrüne Augen und die übliche herrliche Mähne langen, dunklen Haares. Ihr wisst schon, die Sorte Kerl, für die man sterben könnte.
Hmmm. Wie ich gehört habe, hat er letztendlich der Morgendämmerung ins Auge gesehen. Ein Jammer, aber nicht ganz unerwartet. Wenn man nur nach der Devise »so viele Frauen und so wenig Zeit«
Weitere Kostenlose Bücher