Schwesternmord
gewusst haben, dass Amalthea früher hier gewohnt hat.«
Und genau wie ich war sie begierig darauf, mehr über ihre Mutter zu erfahren, dachte Maura. Die Frau zu verstehen, die uns das Leben geschenkt und uns dann im Stich gelassen hat.
Der Regen prasselte auf das Autodach und floss in silbrigen Bahnen die Windschutzscheibe hinab.
Rizzoli zog den Reißverschluss ihrer Regenjacke zu und die Kapuze über den Kopf. »Also, dann wollen wir uns mal umsehen.«
Sie sprinteten durch den Regen und sprangen die Stufen zur Veranda hoch, wo sie sich zuerst einmal das Wasser von den Jacken schüttelten. Maura nahm den Schlüssel aus der Tasche, den sie zuvor in Miss Clausens Büro abgeholt hatten,
und steckte ihn ins Schloss. Beim ersten Versuch ließ er sich nicht drehen, als ob das Haus sich wehrte, als ob es entschlossen sei, sie nicht einzulassen. Und als es ihr endlich gelang, die Tür zu öffnen, knarrte sie noch einmal warnend, ehe sie endgültig ihren Widerstand aufgab.
Drinnen war es noch düsterer und beengter, als sie es in Erinnerung hatte. In der Luft hing ein säuerlicher Modergeruch, als ob die Feuchtigkeit des Waldes durch die Wände gedrungen wäre und sich in Vorhängen und Möbeln festgesetzt hätte. Das Licht, das durch das Wohnzimmerfenster fiel, tauchte den Raum in triste Grautöne. Dieses Haus will uns nicht hier haben, dachte sie. Es will nicht, dass wir seine Geheimnisse lüften.
Sie fasste Rizzoli am Arm. »Sehen Sie mal«, sagte sie und zeigte auf die zwei Riegel und die Messingketten.
»Nagelneue Schlösser.«
»Die hat Anna anbringen lassen. Das gibt einem doch zu denken, nicht? Man fragt sich, wen sie damit aussperren wollte.«
»Wenn es nicht Charles Cassell war.« Rizzoli trat ans Fenster und blickte auf den von Regen triefenden Laubvorhang hinaus. »Also, dieses Haus ist ja schon arg isoliert. Keine Nachbarn. Nichts als Bäume. Da würde ich auch auf ein paar zusätzlichen Schlössern bestehen.« Sie lachte nervös. »Ich muss zugeben, im Wald habe ich mich noch nie sonderlich wohl gefühlt. Als ich auf der High School war, sind wir mal mit einer Gruppe zelten gegangen. Wir sind nach New Hampshire gefahren und haben uns im Wald mit unseren Schlafsäcken ums Lagerfeuer gelegt. Aber ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Immer musste ich denken: Wie soll ich wissen, was da draußen lauert und mich beobachtet? Sich oben in den Bäumen oder im Gebüsch versteckt.«
»Kommen Sie«, sagte Maura. »Ich zeige Ihnen den Rest des Hauses.« Sie ging voran in die Küche und schaltete das Licht ein. Die Neonröhren begannen zu summen und leuchteten
flackernd auf. In dem harten Licht war jeder Kratzer, jede Unebenheit in dem uralten Linoleumboden deutlich zu sehen. Sie blickte auf das Schachbrettmuster, die weißen Felder durch lange Abnutzung vergilbt, und dachte an all die verschüttete Milch, den an Schuhen hereingetragenen Dreck, der über die Jahre seine mikroskopischen Rückstände in diesem Fußboden hinterlassen haben musste. Was war sonst noch in seine rissige, schrundige Oberfläche eingezogen? Welche schrecklichen Ereignisse hatten hier ihre Spuren zurückgelassen?
»Das sind auch ganz neue Sicherheitsschlösser«, sagte Rizzoli, die vor der Hintertür stand.
Maura ging zur Kellertür. »Das hier wollte ich Ihnen eigentlich zeigen.«
»Noch ein Riegel?«
»Aber sehen Sie, wie verrostet der ist? Der ist nicht neu. Dieser Riegel ist schon sehr lange dort. Miss Clausen sagt, er war schon an der Tür, als sie das Haus und das Grundstück vor achtundzwanzig Jahren bei einer Auktion erworben hat. Und jetzt kommt das Merkwürdige.«
»Was?«
»Diese Tür führt nur hinunter in den Keller.« Sie sah Rizzoli an. »Es ist eine Sackgasse.«
»Wieso hat jemand es für nötig gehalten, diese Tür zu verriegeln?«
»Die Frage habe ich mir auch gestellt.«
Rizzoli öffnete die Tür, und der Geruch von feuchter Erde wehte ihnen aus der Dunkelheit entgegen. »O Mann«, murmelte sie. »Wie ich es liebe, in finstere Keller hinunterzusteigen.«
»Da ist eine Kette fürs Licht, direkt über Ihrem Kopf.«
Rizzoli griff nach der Kette und zog daran. Die Glühbirne leuchtete auf, und in ihrem schwachen Schein war die enge Stiege zu erkennen, die nach unten führte. Das untere Ende lag in völliger Dunkelheit. »Sind Sie sicher, dass kein anderer Weg in diesen Keller führt?«, fragte sie, während sie
angestrengt in das Halbdunkel starrte. »Eine Kohlenluke oder so was?«
»Ich bin einmal ganz ums
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