Schwesternmord
zu verlassen, habe ich ihr auch dabei geholfen. Es ist gar nicht so leicht, einfach zu verschwinden, zumal, wenn jemand mit den Mitteln und Möglichkeiten eines Charles Cassell hinter einem her ist. Sie hat nicht nur ihren Namen geändert, sie hat unter diesem Pseudonym sogar einen Scheinwohnsitz bezogen. Sie hat eine Wohnung gemietet, ist aber nie dort eingezogen – das diente nur dazu, eventuelle Verfolger auf eine falsche Fährte zu locken. Es funktioniert nur, indem man ganz woanders hingeht und an diesem neuen Ort immer nur bar bezahlt. Man muss alles und jeden zurücklassen. So sollte es funktionieren.«
»Aber er hat sie trotzdem gefunden.«
»Ich glaube, das war der Grund, weshalb sie nach Boston zurückgegangen ist. Sie wusste, dass sie dort oben im Norden nicht mehr sicher war. Sie wissen doch, dass sie mich angerufen hat? Am Abend vor der Tat.«
Maura nickte. »Das hat Rizzoli erwähnt.«
»Sie hinterließ eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter, um mir zu sagen, dass sie im Tremont Hotel abgestiegen sei. Ich war zu der Zeit in Denver, zu Besuch bei meiner Schwester, und deshalb habe ich die Nachricht erst gehört, als ich wieder nach Hause kam. Aber da war Anna schon tot.« Er fing Mauras Blick auf. »Cassell wird natürlich alles leugnen. Aber wenn es ihm gelungen ist, sie in Fox Harbor aufzuspüren, dann muss es dort irgendjemanden geben,
der ihn gesehen hat. Das wird mein nächster Schritt sein: Ich will beweisen, dass er dort war. Ich will herausfinden, ob sich irgendjemand da oben an ihn erinnert.«
»Aber sie wurde nicht in Maine getötet. Sie wurde vor meinem Haus getötet.«
Ballard schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo Sie hier ins Spiel kommen, Dr. Isles. Aber ich glaube nicht, dass Annas Tod irgendetwas mit Ihnen zu tun hatte.«
Sie hörten die Türglocke läuten. Er machte keine Anstalten, aufzustehen und hinzugehen, sondern blieb in seinem Sessel sitzen, den Blick unverwandt auf Maura gerichtet. Es war ein so eindringlicher Blick, dass sie ihm nicht ausweichen konnte; sie konnte ihn nur erwidern, und sie dachte dabei: Ich will ihm glauben. Weil ich den Gedanken nicht ertragen kann, dass ich in irgendeiner Weise an ihrem Tod schuld sein könnte.
»Ich will Cassell hinter Gitter bringen«, sagte er. »Und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Rizzoli dabei zu helfen. Ich habe die ganze Geschichte von Anfang an verfolgt, und ich wusste vom ersten Moment an, wie es enden würde. Und dennoch konnte ich es nicht verhindern. Ich bin es ihr schuldig«, sagte er. »Ich bin es Anna schuldig, die Sache zu Ende zu bringen.«
Wütende Stimmen zogen plötzlich ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der Fernseher im Nebenraum war verstummt, doch nun lieferte Katie sich einen heftigen Wortwechsel mit einer Frau. Ballard blickte zur Tür, als die Stimmen sich zu überschlagen begannen.
»Verdammt noch mal, was hast du dir bloß dabei gedacht?«, schrie die Frau.
Ballard stand auf. »Entschuldigen Sie mich bitte, ich sollte wohl mal nachschauen, was es mit diesem Theater auf sich hat.« Er ging hinaus, und Maura hörte ihn sagen: »Carmen, was ist denn los?«
»Das solltest du deine Tochter fragen«, antwortete die Frau.
»Ach, hör doch auf, Mom. Hör doch bitte auf.«
»Sag deinem Vater, was heute passiert ist. Los, sag ihm, was sie in deinem Schließfach gefunden haben.«
»Das ist doch voll unwichtig.«
» Sag’s ihm, Katie.«
»Du überreagierst total.«
»Der Direktor hat mich heute Nachmittag angerufen. Sie haben in der Schule stichprobenartig die Schließfächer überprüft, und nun rate mal, was sie bei unserer Tochter gefunden haben? – Einen Joint. Was meinst du, was das für einen Eindruck macht? Beide Eltern im Polizeidienst, und sie hat Drogen in ihrem Schulschließfach. Wir können von Glück sagen, dass er die Sache uns überlassen hat. Was, wenn er sie angezeigt hätte? Ich habe mir schon ausgemalt, wie ich meine eigene Tochter verhaften muss.«
»Oh, verdammt.«
»Wir müssen das gemeinsam regeln, Rick. Wir müssen uns darüber einig sein, wie wir damit umgehen.«
Maura stand vom Sofa auf und ging zur Tür; sie wusste nicht recht, wie sie sich aus der Affäre ziehen sollte, ohne allzu unhöflich zu sein. Sie wollte sich nicht in die Privatangelegenheiten dieser Familie einmischen, aber sie war nun einmal hier und musste zwangsläufig ein Gespräch mit anhören, das sicher nicht für ihre Ohren bestimmt war. Ich sollte ganz einfach auf Wiedersehen sagen
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