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Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Keener
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Reihen waren voller Kleidung. Schuhe. Schminkutensilien. Papageien kreischten hinten neben staubigen Umkleidekabinen. Vorn im Laden, gleich bei der Kasse, ritt ein kleiner Junge auf einem elektrischen Pferd. Das Pferd machte beim Auf und Ab ein nerviges hämmerndes Geräusch. Ich ging in den Gang mit Kosmetikartikeln.
    In einer Pappschachtel im Regal lagen bergeweise Lippenstifte. Ich wühlte mich durch den Haufen, bis ich die Farbe fand, die Margaret trug, und schmuggelte das gute Stück in meine Jackentasche. Das elektrische Pferdstoppte, und es wurde recht still, nur aus dem hinteren Teil des Ladens drang ab und zu ein Krächzen. Ich hörte, wie das Kind seine Mutter um noch eine Fahrt anbettelte. Dann setzte das Hämmern wieder ein.
    Im nächsten Gang verbrachte ich viel Zeit damit, die Verpackungen mit Nylonstrümpfen zu begutachten. Ich nahm eine Plastikverpackung nach der anderen heraus, bis ich ein Paar in meiner Größe fand, ein Meter und sechsundfünfzig, zweiundvierzig Kilo. Die Hautfarbenen hatten einen bräunlichen Ton. Ich nahm die Nylonstrümpfe mit an die Kasse und bezahlte sie, dann versteckte ich die Packung zwischen meinen Büchern. Das Pferd erstarrte wieder. Das Kind jammerte und hielt sich am Hals des Pferdes fest. Ich verließ den Laden. Eine Mutter kam mit ihrem kleinen Kind vorbeispaziert. Auf der anderen Straßenseite, vor der Bibliothek, sprangen zwei Jungen vom Bürgersteig und schleuderten beim Aufkommen Steine in die Luft.
    Ich ging heimwärts und kam am Ortsschild vorbei: STADT SOQUASET, EINGEMEINDUNG 1689. Autos beschleunigten und rasten vorbei, machten gurgelnde Geräusche. Die Sonne senkte sich auf die Dächer. Ich spürte den Lippenstift wieder, tief in meiner Jackentasche.
    Â«Starting here!» Ich sang – erst nur im Flüsterton, dann mit mehr Kraft – das Lied aus der Chorprobe. Ich öffnete meine Hand, wie ich es bei professionellen Sängern im Fernsehen gesehen hatte, die einem Lied mit ihren Händen Dramatik verleihen wollten. «Starting now!» Ich wirbelte herum, als ich am Soquaset Junior-College vorbei kam, einer kleinen Ansammlung roterBacksteingebäude im viktorianischen Stil mit Fenstern, die so alt waren, dass das Glas sich wellte. Aus Mr Binghams Unterricht wusste ich, dass Glas, anders als die meisten Menschen glauben, nicht in einem festen, sondern in einem flüssigen Zustand ist, weshalb es dann im Laufe der Zeit riffelt. Von der Schwerkraft nach unten gezogen. Hinter einer Hecke saßen ein Junge und ein Mädchen knutschend auf einer Bank. Ich ging schneller, konnte es nicht erwarten, nach Hause in mein Zimmer zu kommen.
    Als ich die Küche betrat, war es ausgesprochen ruhig im Haus. Ich hängte die Jacke in den Flur und steuerte auf die Treppe zu. Mutter lag in einem türkisfarbenen Mohairanzug schlafend auf dem Wohnzimmersofa. Auf dem grünen Teppich neben ihr ein leeres Glas.
    Â«Mutter?» Ich stand über ihr. Das Glas hatte denselben süßlichscharfen Geruch wie ihr Atem. «Mutter?»
    Sie bewegte sich und öffnete die Augen.
    Â«Wie spät ist es?» Sie richtete sich auf und strich sich das Haar glatt. Auf einer Seite hatte sich ihr Strumpf in Kniehöhe verdreht.
    Â«Geht es dir nicht gut?», fragte ich.
    Sie stand auf und richtete den Strumpf.
    Â«Mein Rücken spielt wieder verrückt. Ich geh nach oben.»
    Sie ging in Richtung Schlafzimmer, immer weiter weg von mir. Das herbe Parfum hüllte mich ein wie ein Schleier. Ich wartete, bis sie auf dem oberen Absatz angekommen war und die Schlafzimmertür sich schloss, dann ging ich hinauf in mein Zimmer. Als es dämmerte, stellte ich den Schreibtischstuhl vor meine Zimmertür,damit keiner plötzlich hereinkam, und hielt meine neuen Strümpfe hoch, die silbern schimmernden Beine baumelten wie Marionetten in der Luft. Ich probierte sie an und schritt in großen Bögen in meinem Zimmer auf und ab. Die Strümpfe fühlten sich kühl und fein und gewagt an. Ich fragte mich, wie ich Anthony darin gefallen würde.
    Die Sonne glitt unter den Rand der Erde und hinterließ hinter der Fensterscheibe einen violett und braun verwobenen Himmel. Die Hängebirke in unserer Einfahrt hatte ihre Blätter frühzeitig verloren. Ranken hingen gerade wie Bindfäden bis auf den Asphalt. Ich stellte mir Anthony in der Einfahrt vor, wie er zu mir hochrief. Wie ich in den hauchdünnen Strümpfen

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