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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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a2. Zwar konnte er die Position einer jeden Figur durch sein jahrelanges Training präzise bestimmen, aber die Bewegungen der Puppe waren nicht so leicht nachvollziehbar. Im Schach gilt die Regel, wenn man eine eigene Figur willentlich berührt, muss man auch ziehen. Der Junge wollte derart peinliche Fehler vermeiden und verwandte viel Zeit darauf, die Bedienung des Apparats perfekt zu beherrschen.
    Natürlich war das Lauschen auf die Geräusche der Figuren nach wie vor sehr wichtig. Die Feinabstimmung des Hebels erfolgte nach dem charakteristischen Klacken auf dem Brett. Aber der Junge musste auch eine Strategie im Kopf haben, wie er die Partie gewinnen wollte, während er, den Blick auf einen Punkt in der Dunkelheit gerichtet, den Zügen seiner Gegner lauschte. Wenn er derart konzentriert in dem Kasten saß, kam es ihm manchmal so vor, als würde ein Loch, das höchstens so groß war wie eine Pupille, sich in der Dunkelheit öffnen und ihn verschlingen. Dann wurde ihm immer schwindelig und er fürchtete, ohnmächtig zu werden.
    Der Automat konnte außer dem Setzen der Figuren noch eine einzige Geste vollführen. Wenn man auf einen Knopf neben dem Hebel drückte, zwinkerte die Puppe mit den Augen. Dieses Augenzwinkern war viel langsamer als bei einem lebenden Menschen und sollte zeigen, dass die Puppe angestrengt nachdachte. Merkwürdigerweise beherrschte der Junge diesen Vorgang sofort, ohne viel üben zu müssen.
    Nur eins bereitete ihm Verdruss. Er konnte nicht allein spielen, sondern war auf Hilfe angewiesen. Beispielsweise war es ihm durch die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Puppe unmöglich, die Schachuhr zu betätigen. Und er konnte keine gegnerische Figur schlagen, weil es ihm nicht gelang, zwei Figuren auf einmal zu greifen und sie so gegeneinander auszutauschen. Nachdem der Automat seine Figur auf das eroberte Feld gestellt hatte, konnte er die geschlagene Figur des Gegners nur minimal zur Seite schieben. Er brauchte also jemanden, der im entscheidenden Augenblick die Figur vom Brett nahm.
    Nach der Lehre des Meisters war Schach eine Sinfonie, bei der zwei Seelen miteinander verschmolzen, um etwas Neues entstehen zu lassen. Hier aber hatte zwangsläufig eine dritte Person ihre Finger im Spiel, was für den Jungen dasselbe war, als würde ein kleines Kind in seinem Notationsheft herumkrakeln.
    »Keine Sorge«, beruhigte ihn der Generalsekretär. »Durch eine dritte Person wird der Spielverlauf einer Partie nicht im Geringsten beeinflusst. Es soll Ihnen doch nur jemand helfen, mein Lieber. Diese Person wird die geschlagenen Figuren vom Brett nehmen und die Schachuhr bedienen, nichts weiter. Es ist so, als würde man einem genialen Pianisten jemanden zur Seite stellen, der für ihn die Noten umblättert. Sie wird übrigens auch die Notationen eintragen und somit offiziell die Aufgabe des Schiedsrichters übernehmen. Daran gibt es ja nichts auszusetzen. Es gehört einfach dazu. Wir haben da jemanden, der bereits für unseren Klub tätig ist. Eine ehrenwerte Person, die ihren Pflichten seit jeher gewissenhaft nachgekommen ist. Ich werde sie Ihnen vorstellen.«
    Und so begegnete der Junge einer alten Freundin.

8
    Als das Mädchen die ehemalige Damendusche betrat, war der Junge wie vom Donner gerührt. Überrascht rief er aus:
    »Miira, endlich hast du es geschafft, aus dem Mauerspalt zu entkommen!«
    Eine breite Stirn und ein spitzes Kinn, leuchtend schwarze Augen, lange Wimpern, glänzende Lippen, eine perlweiße Haut, das glatte Haar zu Zöpfen gebunden … so hatte er sich Miira immer vorgestellt.
    »Hallo, es freut mich, dich kennenzulernen.« Als sie ihn begrüßte, war er wie hypnotisiert. Fassungslos stand er da und konnte kaum glauben, dass die Stimme, die sonst durch die Dunkelheit zu ihm drang, nun so nah war.
    Als ihr Blick seine Lippen streifte, schlug sie sofort die Augen nieder. Aber er spürte, dass sie es aus reiner Schüchternheit tat. Sie war sehr mager, hatte kein überflüssiges Gramm Fett am Leib. Dadurch wirkten ihr Hals, ihre Finger und Waden zierlicher als bei anderen Mädchen, die er bisher gesehen hatte. Wie sie still und stumm dort stand, in ihrem hellblauen Kleidchen, dessen Farbe sich von den Fliesen im Duschraum kaum unterschied, sah es aus, als würde sie gleich wieder in die Wand hineingesogen werden.
    Auf der linken Schulter des Mädchens saß eine Taube, die in ihrer scheuen Zurückhaltung noch unwirklicher aussah als sie selbst. Sie hatte einen fleischfarbenen Schnabel,

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