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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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Tür öffnete, stand ein alter Mann vor ihm, der haargenau so aussah wie der Gondelführer.
    Seine andere Sorge war gravierender: die Oberschwester hatte die Statur einer Walküre. Im Gegensatz zu seinem Meister, der durch seine ständige Nascherei immer dicker geworden war, war sie ein Muskelpaket, aber an Körperfülle stand sie ihm nicht nach. Mit ihren eins achtzig überragte sie alle Bewohner der Residenz. Sie hatte ausladende Hüften, einen stämmigen Oberkörper und breite Schultern, was ihrer Position als Oberschwester die nötige Autorität verlieh. Ihre Arme waren so kräftig, dass sie mühelos jeden der Senioren hochheben konnte, und ihre Beine sahen aus, als würden Baumstämme aus dem Boden wachsen. Wenn sie einem in ihrer weißen Uniform auf dem Flur entgegentrat, hatte man den Eindruck, ein Eisberg rücke näher.
    Unablässig machte sich der Junge Sorgen um das Gewicht der Oberschwester, die seine Hände aufopferungsvoll pflegte. Was, wenn sie so zunahm, dass sie nicht mehr in die Gondel passte? Diese Vorstellung ließ ihn nicht mehr los und verfolgte ihn wie ein unauslöschlicher Schatten. Und neben diesem Schatten stand die bittere Erkenntnis seines Lebens geschrieben: Größerwerden ist eine Tragödie.

15
    Nach und nach gewöhnte sich der Junge an sein neues Leben in der Residenz »Etüde«. Er hatte sich Namen und Gesichter der Bewohner eingeprägt, wusste mit allen Gerätschaften des Anwesens umzugehen und sich mit schlecht gelaunten Angestellten zu arrangieren. Spät am Nachmittag begann er seinen Dienst im Verwaltungsgebäude. Er half dort aus, wo Not am Mann war, faltete Wäsche zusammen, wusch Kochtöpfe aus oder verbrannte trockenes Laub. Nach dem Abendessen, wenn das Personal für die Nachtschicht eintraf und das Licht im Aufenthaltsraum gelöscht wurde, begab er sich ins Schachzimmer und kroch in den Automaten.
    Was den Ablauf der Schachpartien betraf, gab es zwischen dem Klub am Grunde des Meeres und der Residenz »Etüde« keinen großen Unterschied, nur die Atmosphäre war anders. Hier herrschte nicht dieses affektierte Gehabe, mit dem man den Kleinen Aljechin als Attraktion des Klubs angepriesen hatte. Natürlich waren die Bewohner begeistert, als sie zum ersten Mal den Schachautomaten erblickten und darin den legendären Alexander Alexandrowitsch Aljechin erkannten, jeder auf seine Weise. Aber ihre Freude war echt und drehte sich nicht nur um die Frage, wie ein solcher Automat funktionierte. In der Residenz war der Kleine Aljechin vor allem als Gegner hoch geschätzt. Für die Bewohner zählte allein die Gegenwart des Großmeisters, nicht der Umstand, dass eine Puppe Schach spielen konnte. Manche von ihnen glaubten sogar, sie säßen dem echten Aljechin und keinem Automaten gegenüber.
    Deshalb war es nie nötig, vor der Partie die Klappe des Schachtischs zu öffnen, um das Innenleben des Automaten vorzuführen. Ebenso erübrigten sich alle Ermahnungen, man möge die Puppe nicht berühren. Wenn jemand die Hände nach dem Kleinen Aljechin ausstreckte, dann geschah dies nicht, um deren Mechanismus zu ergründen, sondern um ihm für die gelungene Partie zu danken.
    Das Schachspielen in der Residenz war eine recht entspannte Angelegenheit. Auf die Schachuhr wurde meistens verzichtet, und die Notationen nahmen die Alten selbst vor. Sobald sie begriffen, dass die Puppe die Figuren nicht eigenhändig austauschen konnte, halfen sie ihr, als wäre es eine Ehre, dem werten Aljechin zu Diensten zu sein. In der Residenz »Etüde« war Miiras Anwesenheit entbehrlich.
    Dass der Junge immer noch den Moment abpasste, wo keiner im Schachzimmer zugegen war, um unbemerkt in die Puppe zu schlüpfen, war reine Angewohnheit. Hier war diese Vorsichtsmaßnahme kaum von Bedeutung. Für die Spieler war es wichtig, dass die Puppe gut Schach spielte – ob in ihr eine lebende Person steckte oder nicht, interessierte niemanden. Tagsüber, wenn sie dem Jungen begegneten, wie er fleißig und still seinen Dienst verrichtete, mochte sich vielleicht manch einer seinen Teil denken. Aber keiner von ihnen wäre so indiskret gewesen, im dunklen Innenraum der Puppe nachzusehen. Sie alle waren gesittete Menschen, die im Laufe ihres langen Lebens als Schachspieler gelernt hatten, sich in Schweigen zu hüllen. Und diese Schweigsamkeit war dieselbe, die der Junge bei seiner Geburt an den Tag gelegt hatte.
    Tagsüber hielten sich viele der alten Herrschaften im Schachzimmer auf. Manch einer spielte eine Partie gegen einen

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