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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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Mitbewohner, mit dem er sich gut verstand, oder gegen einen langjährigen Rivalen. Dann gab es welche, die über Schachproblemen vor sich hin brüteten oder bei einer interessanten Partie zuschauten. Gegen diese Herrschaften brauchte der Kleine Aljechin nicht anzutreten. Jeder von ihnen hatte einen geeigneten Partner und das passende Schachbrett gefunden. Um die Anwesenden nicht zu stören, saß der Kleine Aljechin im Schatten des Holzofens, Pawn im Arm haltend und mit gesenkten Lidern.
    Doch sobald die Nacht anbrach, war es mit der Ruhe vorbei und eine gespenstische Atmosphäre machte sich breit. Knarrende Betten. Bewohner, die im Schlaf redeten. Schritte. Husten. Pfiffe. Lachen. Schluckauf. Weinen. Kurz, alle möglichen Laute drangen aus den Mündern der Alten und vereinten sich zu einer vielstimmigen Geräuschkulisse.
    Das war genau der Zeitpunkt, an dem der Kleine Aljechin in Erscheinung trat. Wenn einer der Alten im Schachzimmer schüchtern das Licht anschaltete, tauchte die Puppe aus dem Dunkel der Nacht auf, und ihre Miene sagte ihm, dass sie schon lange auf ihn gewartet habe.
    Die Bewohner der Residenz waren echte Champions. Anders als im Klub am Grunde des Meeres, wo viele mittelmäßige Spieler über ihre Beziehungen zu Mitgliedern Einlass erhielten. Da die alten Damen und Herren allesamt der Schachunion angehörten, wären sie lieber vor dem Schachbrett gestorben als im Kreis der Familie.
    Aber ein Problem, auf das die Oberschwester bereits hingewiesen hatte, war das fortgeschrittene Alter der Spieler, deren Glanzzeit in ferner Vergangenheit lag. Einige hatten sogar ihre Fähigkeiten, die sie als junger Mensch besessen hatten, in Demut vergessen. Der Schatten des Alters verdüsterte manchmal das Schachbrett. Jedoch machte es dem Kleinen Aljechin überhaupt nichts aus, mit den älteren Menschen zu spielen. Ganz im Gegenteil: er hatte ihnen gegenüber den größten Respekt. Hier in der Residenz spielte man nämlich eine Art von Schach, in deren Genuss er weder in dem ausrangierten Bus noch im Klub am Grunde des Meeres gekommen war.
    Sein erster Gegner war ein alter Herr, der eine Art Einkaufstasche auf Rollen hinter sich herzog. Obwohl er mit seinem Trolley fast gegen jeden Tisch stieß, ging er auf Zehenspitzen, um möglichst wenig Krach zu machen.
    »Danke, dass Sie den langen Weg auf sich genommen haben«, sprach er zur Puppe und verneigte sich vor ihr. »Wäre es möglich, eine Partie mit Ihnen zu spielen?«
    Nachdem er mit einiger Mühe seinen Trolley abgestellt hatte, trat er an den Schachtisch. Die Figuren standen schon bereit, die schwarzen vor dem Kleinen Aljechin, die weißen auf der Seite gegenüber. Zu dieser Zeit war im gesamten Gebäude nur das Schachzimmer erleuchtet.
    Der Alte spielte gut. Im Gegensatz zu dem rätselhaften Trunkenbold, der damals im Klub am Grunde des Meeres die Puppe beschädigt hatte, haftete seinem Spiel jedoch kein Makel von Arroganz an. Er hatte weder die kühle Intelligenz des Jungen bei der Aufnahmeprüfung im Pazifik-Schachklub noch die unbekümmerte Art der alten Dame. Er wirkte frei von jeglichen Allüren. Sein Stil ähnelte der glatten Wasserfläche eines ruhigen Sees, auf dem nicht eine einzige Welle zu sehen ist.
    Die Aura, die von seinen Fingerspitzen ausging, spürte der Kleine Aljechin sofort. Welche Züge er auch spielte, sein Gegenüber nahm sie stillschweigend hin. Nie zeigte er sich überrascht oder wütend. Man hatte den Eindruck, er absorbiere alles, damit der See auch in Zukunft spiegelglatt bliebe.
    Anfangs fragte sich der Kleine Aljechin, ob sich die beschwerliche Anreise eventuell auf den Mechanismus des Automaten ausgewirkt hatte. Mithilfe des Hebels versuchte er, die Figuren bewusst langsam zu setzen. Aber der See blieb unverändert still. Er atmete tief durch. Die Haare auf seinen Lippen erzitterten, als er sich den Leitspruch des Meisters ins Gedächtnis rief: »Nicht so hastig, mein Junge!« Sein Gegner hatte es offenbar nicht besonders eilig, also bestand für ihn auch kein Grund dazu. Er machte sich darauf gefasst, ganz langsam in den See einzutauchen.
    Der Alte hatte die Angewohnheit, in schwierigen Situationen nach dem Griff seines Trolleys zu fassen und ihn neben dem Tisch hin und her zu rollen. Erst wenn er sich für den nächsten Zug gewappnet fühlte, setzte er die Figur, was im Geratter der Rollen kaum zu hören war. Seine Züge ließen keine klare Strategie erkennen. Man konnte nie sagen, ob ein Zug dem Angriff oder der Verteidigung

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