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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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diente. Er schien all das zu verachten, was man als Schachspieler normalerweise anstrebte: eine solide Festung, schlagkräftige Waffen und eine gute Marschroute. Stattdessen breitete er die Arme aus, um die Figuren seines Gegners bereitwillig in Empfang zu nehmen.
    Um die Wasseroberfläche nicht in Aufruhr zu versetzen, fand der Kleine Aljechin es passender, auf dem Grunde des Sees eine neue Taktik zu ersinnen. Das Herzstück dieses Plans war sein Läufer auf g7. Er wusste aus Erfahrung, dass der Läufer erst im Verborgenen seine volle Kraft entfaltete, weshalb er ihn auf e5 schickte. Dort hatte er den weißen König im Visier, der sich, vom Bauern auf g3 bewacht, auf h2 verbarg.
    Als er zur Oberfläche des Sees hochschaute, sah der Kleine Aljechin, dass sie nicht mehr so ruhig dalag, sondern, auch wenn sie nicht gerade aufgewühlt war, immerhin leichte Wellen schlug. Laub, abgebrochene Zweige und tote Insekten schwammen darauf herum. Dem Kleinen Aljechin erschienen sie wie Relikte, die dem Schachspiel des Alten einst Farbe verliehen hatten: Instinkt, Unerschrockenheit und große physische Stärke.
    Aber auch als der Kleine Aljechin seine Taktik geändert hatte, ließ der Alte sich nicht aus der Ruhe bringen. Er spielte gewissenhaft Zug um Zug, ohne sich der Relikte zu bedienen. Bei jeder Weggabelung entschied er sich für den diskreteren Zug, der nicht so viel Aufruhr verursachte. Das ging so weit, dass der Kleine Aljechin manchmal wirklich die Ohren spitzen musste, um die Geräusche auf dem Brett hören zu können, aber nicht, weil die Figuren so leise gesetzt wurden, sondern weil die Züge des Gegners so bescheiden waren. Da mochte der schwarze Läufer sich noch so aufschwingen, der Alte schaffte es sogleich, den See wieder zu beruhigen. So wurde das klare Wasser nie getrübt.
    Allerdings war es offensichtlich, dass der Alte sich mehr und mehr verausgabte. Sein Atem ging schwer, und er brauchte immer länger, um den nächsten Zug zu überdenken. Langsam färbte die Müdigkeit des Alten auch auf sein Spiel ab und lähmte die Figuren. Beim siebenundzwanzigsten Zug zog der Kleine Aljechin seinen Läufer auf c4. Dem Alten blieb daraufhin nichts anderes übrig, als seinen König umzulegen. Der Junge drückte den Knopf am Hebel und ließ die Puppe zwinkern.
    »Das war eine exzellente Partie«, meinte der Alte.
    Der Kleine Aljechin streckte anerkennend seinen Arm aus. Über dem ruhigen See des verwaisten Spielfelds, das nun kein Strudel mehr aufrührte, gaben sich beide die Hand.
    Bisher hatte der Junge nur die Art von Schach gekannt, bei der man die Schlagkraft der eigenen Figuren voll ausschöpfte. Aber der Alte mit dem Trolley hatte so gespielt, als hätten diese auf dem Feld gar keine Bedeutung. Wie ein Diener, der alle gegnerischen Züge wortlos entgegennimmt. Er hatte seine Figuren in dem Bewusstsein gesetzt, als käme es auf das eigene Ego gar nicht an. Lange noch sann der Junge über diese Lehre nach.
    »So ein Schachautomat ist doch etwas Großartiges, nicht wahr?« sagte der Alte. Er hatte sein Kinn auf den Griff der Tasche gestützt, wodurch man den Eindruck gewann, er spräche mit dem Trolley.
    »Wo findet man sonst jemanden, der beim Schachspielen den Mund hält? Ich habe jedenfalls noch nie so jemanden getroffen.«
    Unbewusst presste der Junge die Narben seiner Lippen zusammen. Jenseits des Schachtischs knisterten die glimmenden Scheite im Ofen.
    »Viele überhöhen das Spiel, indem sie lang und breit erklären, weshalb man so oder so spielt. Das ist alles Blödsinn. Der Mund ist ein überflüssiges Organ.«
    Der Alte lachte verlegen.
    »Deshalb gebe ich auch gerade dieses alberne Geschwätz von mir.«
    Der Junge betastete seine Lippen. Die Haare waren trocken und hoffnungslos zerzaust.
    »Wer einen Mund besitzt, spricht doch sowieso nur von sich selbst. Ich, ich, ich. Immer nur ich, das ist das Allerwichtigste. Aber beim Schach geht es nicht um die eigene Person. Das, was sich auf dem Spielfeld ereignet, lässt sich nicht in menschliche Worte fassen. Wer da nur sich selbst ins Spiel bringen will, hinterlässt als Notation nur hässliche Krakeleien.«
    Der Alte zog den Trolley an seine Brust.
    »Deshalb beneide ich Sie so. Sie sind selbstlos. Sie setzen sich einfach nur vor das Schachbrett, und das war’s. Als Kleiner Aljechin geben Sie sich dem Schweigen hin.«
    Der Junge dachte an die vom Puppenbauer geschnitzten Lippen, die sich niemals öffnen würden und hinter denen sich eine unberührbare Stille

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