Schwindel
bedrohlich. Sogar der Weg ins Bad, das ich gleich mehrfach
aufsuchen musste, kam mir gefährlich vor. Ich war froh, wenn Julian bei meiner Rückkehr ins Bett wach war und wieder einen
Arm um mich legte. Das gab mir ein gewisses Gefühl von Sicherheit. Ihm schien es ähnlich zu gehen, denn er war anhänglich
wie lange nicht mehr. »Du bleibst bei mir, oder?«, flüsterte er in den frühen Morgenstunden. »Du bleibst heute hier, so wie
geplant, Eva, ja?«
Ich murmelte etwas Zustimmendes, obwohl ich mich lieber in der Großstadt, unter Menschen, aufgehalten hätte als hier allein
in der Natur. Den richtigen Zeitpunkt, um abzureisen, hatte ich sowieso verpasst. Dadurch, dass ich Alina gefunden hatte,
konnte ich nichteinfach verschwinden. Warum, wusste ich selbst nicht genau. Weil ich ein paar Blumen kaufen und sie an die Fundstelle legen
wollte? Weil die Polizisten angekündigt hatten, eventuell noch weitere Fragen zu haben, und Julian geantwortet hatte, wir
seien bis Sonntagmittag in der Mühle anzutreffen? Weil es doch etwas gab, das ich zu Alinas Fall zu sagen hatte?
Ich wälzte mich im Bett hin und her. Die roten Ziffern auf dem Radiowecker zeigten 4.38 Uhr. Alina hatte einen Ring mit einem roten Stein am Finger gehabt. Er hatte im Mondlicht geblinkt. Eigentlich hatte ich als
Erstes das Blinken dieses Steins gesehen. Ich stöhnte. Julian zog mich näher an sich. »Versuch zu schlafen!«
Schlafen …
Im Halbtraum laufe ich durch den Wald, stürze ich etliche Male den Abhang hinunter. Er wird jedes Mal steiler, bis ich zu
der Stelle komme, an der Alina liegt. Ich sehe ihre Hand.
Sie winkt mir zu.
19
Als ich aufstand, war es früher Mittag. Der Schlaf hatte mich letztlich doch übermannt, aber nicht ausgeruht. Ich hatte Verspannungen,
Kopfschmerzen, ein verstauchtes Handgelenk, ein geschwollenes Knie und eine Stimmung, die zum umgeschlagenen Wetter passte.
Julian schlief noch. Ich ließ ihn, tappte barfuß ins Bad und dann in die Küche hinunter. Die Fliesen waren kalt. Aspirin oder
Ähnliches gab es in den Schränken nicht.Ich kochte Kaffee, gähnte, rieb mal den einen, mal den anderen nackten Fuß an meinem Bein, schob die Aufbackbrötchen in den
Ofen, legte Julians Eisbeutel auf mein Handgelenk, stellte das Radio an, in der Hoffnung, etwas über die Ermittlungen im Fall
Alina zu erfahren, wählte die Nummer meiner Eltern, erreichte aber niemanden. Dass ich traurig war, war verständlich, aber
warum fühlte ich mich beim Blick aus dem Fenster so einsam?
Allein war ich nämlich nicht. Bernd Vollmer ging ohne aufzusehen vor dem Fenster vorbei, schloss das Tor zum Mahlhaus auf
und verschwand in der Garage. Ob er die örtliche Tageszeitung bekam und schon wusste, was mit Alina passiert war? Ich stand
in Gedanken versunken da, als auch sein Sohn auftauchte. Mirko Vollmer hatte sich einen schmuddeligen Schulrucksack über die
Schulter gehängt und trug die beige-orange Sportjacke vom Donnerstagabend. Der Riss am Ellbogen war notdürftig genäht. Mirko
hatte im Gegensatz zu seinem Vater dunkle, lockige Haare, sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Er folgte ihm nicht in die Garage,
sondern wartete wie ein gelangweiltes Kind draußen, die Hände in die Taschen der Jeans vergraben, die Schultern fast bis zu
den Ohren hochgezogen, lustlos etwas vor sich herkickend. Jetzt bemerkte er, dass er beobachtet wurde, hielt inne und begegnete
meinem Blick.
Sie hatten ihn ordentlich vermöbelt, daran bestand kein Zweifel. Sein Gesicht sah mitleiderweckend aus. Er zog den Mund schief.
Sollte das ein Grinsen sein, eine Begrüßung? Bestimmt hatte er mich gestern durchs Fenster gesehen und wusste, wer ich war:
das Mädchen,das Zeugin geworden war, als man ihn zusammengeschlagen hatte. Mein schlechtes Gewissen meldete sich erneut, gleichzeitig
kam Wut in mir auf, wenn ich daran dachte, wie er zuvor Esra zugesetzt hatte.
Nicht nur Esra, berichtigte ich mich, auch dem Jungen, der mit ihr auf den Fotos war. Wenn ich herausfinden wollte, ob es
sich dabei um Julian handelte, war jetzt die Gelegenheit dazu. Mehr noch: Die Lösung dieser Frage würde mich eine Weile von
dem Bild der toten Alina ablenken, das unverändert in meinem Kopf herumspukte. Mirko und ich sahen uns weiter an. In mir kämpften
die widersprüchlichsten Gefühle. Die Neugier siegte. Ich öffnete das Fenster. »Hallo.«
Er kniff die Augen zusammen, wich einen Schritt zurück.
»Ich weiß, woher du das hast.«
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