Schwindel
du noch länger hier?
Ein Drohbrief!
»Zeig mal!« Julian zog mir das zweite Blatt aus der Hand und ich erkannte die Schrift, noch bevor er zu lesen begann und ich
den kopierten Text aus seinem Mund hörte:
»Als es mir während des Erzählens so schlecht ging, habe ich zu ihm rübergeguckt. Er hat mich wieder keine Sekunde aus den
Augen gelassen, ich kämpfte mit den Tränen und er sah mich genau an, den Mund offen, die Augen zusammengekniffen, hochkonzentriert.
Wie gefangen kam ich mir vor, wie ein aufgespießtes Insekt, wehrlos und völlig offen, ihm, dem Fuchs, gegenüber, wie gehäutet,
durchleuchtet und seziert. Das war der
Moment, vor dem ich mich von Anfang an am meisten gefürchtet hatte. Ich hielt seinen Blick aber aus, weil ich vom Kopf her
wusste, dass es nicht fies gemeint war, und weil ich dem Fuchs vertraute. Also begann ich zu reden, dünn und leise, als hätte
ich nicht genug Kraft, meiner Stimme Volumen zu geben. Beim Sprechen hielt ich meine zitternden Knie fest, und währenddessen
war der Fuchs da, aber ich habe ihn nicht mehr richtig wahrgenommen, er hat mich nicht unterbrochen, hat mehr abgewartet und
ab und zu eine Frage gestellt, ganz lieb, ganz vorsichtig, das ist auch wahr. Ich verriet ihm mein schlimmstes Geheimnis.
Ich sagte ihm, dass ————
Bevor ich nach Hause ging, hat er mir gesagt, dass er immer für mich da sei. Ein unglaublich kitschiger, unverschämt verlogener
Satz, aber er hat mir so gutgetan. Ich gebe es nur ungern zu, aber ich brauche ihn. Ich brauche meinen Fuchs manchmal so sehr
wie meinen Julian.«
Julian stieß geräuschvoll die Luft durch die Nase aus. »Was ist das?«
Meine Stimme war ein Mäusepiepsen. »Mein Tagebuch.«
»Ja, das habe ich mir gedacht!«, keifte er. »Aber was steht denn da drin?« Er zeigte auf die Lücke im unteren Textteil. Der
Satz, der die entscheidenden Passagen einläutete, war nach dem ersten Kopiervorgang in der Mitte abgeschnitten worden – selbst
ohne zu lesen sah man gleich, dass da etwas fehlte. »Was schreibst du denn für ein komisches Zeug in dein Tagebuch? Was für
ein Fuchs? Was für Geheimnisse? Ist mein Name Hase oder was?«
»Julian, ich kann dir das erklären, es ist alles harmlos.«
Er hörte mir gar nicht zu. »Ich dachte, du schreibst da rein, ob du morgens Müsli oder Rührei zum Frühstück gegessen hast!
Das fände ich harmlos! Mensch, jetzt kapier ich erst, warum du das Teil unbedingt wiederhaben wolltest! Du hast außer mir
noch ’nen Freund, das ist es doch!«
»Das ist totaler Blödsinn!«, schrie ich den Tränen nahe. »Der Fuchs ist so was wie ein Vertrauter und ich hatte mir eigentlich
für diesen Urlaub vorgenommen, dir von ihm zu erzählen. Aber wir hatten ja überhaupt noch keine ruhige Minute miteinander!«
Genau das war es, dachte ich, dieser Urlaub war der reinste Horrortrip! Die plötzlich aufkommende Wut gab mir Kraft. »Hier
passieren nacheinander die heftigsten Dinge und jetzt werde ich auch noch mit meinem Tagebuch erpresst – und du hast nichts
anderes zu tun, als mir Vorwürfe zu machen!« Ich sah, wie er zusammenzuckte. Recht so! Was ich sagte, stimmte. »Das ist total
daneben von dir! Weißt du, dass mir das hier Angst macht?« Ich schlug auf das Papier in seiner Hand. »Angst, Julian! Und die
ist hundertprozentig berechtigt.« Die Tränen flossen jetzt, ich ärgerte mich darüber, merkte gleichzeitig, wie erschöpft und
geschockt ich war, stürzte die Treppen hinauf, warf mich bäuchlings aufs Bett, vergrub das Gesicht im Kopfkissen und weinte
hemmungslos.
Es dauerte eine Weile, bis Julian dazukam, sich auf die Bettkante setzte, mir eine Hand auf die Schulter legte und sagte:
»Entschuldige. Du kannst natürlich in dein Tagebuch schreiben, was du willst.«
Ich gab keine Antwort, es wäre eh nur ein Schluchzen geworden. Julian hatte keine Ahnung, wie schlimm eswar, dass ein Fremder und noch dazu einer, der mir etwas Böses wollte, mein Tagebuch las. Das war, als würde der sich Zutritt
zu meiner Seele verschaffen. Ich hatte schon lang genug gebraucht, dem Fuchs, dem ich inzwischen völlig vertraute, Einblicke
in meine geheimsten Gedanken und Gefühle zu gewähren. Und jetzt das! Nun drang dieser Fremde dort ein! Eine weibliche Drohbriefschreiberin
schloss ich gefühlsmäßig aus, selbst Laura würde die Intimität eines Tagebuchs achten. Das hier war Seelenvergewaltigung!
Gemein und abscheulich! Zum Heulen, zum Kotzen, zum
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